ALTE DRUCKEREI OTTENSEN
Herbert Bruhn
Bahrenfelder Straße 73d
(Hinterhof – Souterrain)
22765 Hamburg
040 39 39 39
www.alte-druckerei-ottensen.de
Harald Meyer
0151467 36 485
Verantwortliche Redakteurin & Bookings:
Magdalena Reusch
Kontakt: +49 151/14920197
Die Alte Druckerei Ottensen ist ein Treffpunkt im Herzen von Ottensen,
an dem Konzerte mit vielen herausragenden Künstlern
aus den Bereichen Klassik, Jazz und Weltmusik stattfinden.
Darüber hinaus veranstalten wir hier Ausstellungen und Lesungen
sowie politische und literarische Gesprächskreise,
die sich mit Fragen zum Zeitgeschehen beschäftigen.
Die von Harald Meyer und Herbert Bruhn veröffentlichten Schriften
der EDITION ALTE DRUCKEREI sollen zur Verbreitung
der erarbeiteten Anregungen beitragen.
EDITION ALTE DRUCKEREI OTTENSEN
Krieg & Frieden
Bild & Wort (Aphorismen)
Meer des Irrtums
Die menschliche Stimme
Wahrnehmung von Musik
(Prof. Herbert Bruhn)
GESCHICHTE DES (IR)RATIONALEN IN EUROPA
Oh glücklich, wer noch hoffen darf,
aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.
Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
und was man weiß kann man nicht brauchen.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I
Angeregt durch die Diskussionen in der Alten Druckerei Ottensen und in einer Art Vorahnung der inzwischen eingetretenen Entwicklungen , habe ich vor einigen Jahren begonnen, die Geschichte des (Ir)rationalen in Europa zu zu schreiben. Daraus ist inzwischen eine Serie von 16 Broschüren entstanden, die als EDITION ALTE DRUCKEREI bei uns ausliegt und zum Selbstkostenpreis mitgenommen werden kann.
Das oben angekündigte Buch
JESUS (YESHUA) ODER PAUSLUS?
ist ein Teil dieser Edition.
In den nächsten Wochen werde ich das Buch bei uns vorstellen.
Die hier folgende Textreihe MYTHOS EUROPA ging meinem jetzigen Werk voraus,
und auch die Auseinandersetzung mit Faust I und II war ist damit verbunden.
HOMMAGE À PICASSO (GUERNICA)
DER MYTHOS VON EUROPAS ENTFÜHRUNG DURCH ZEUS IN GESTALT DES WEISSEN STIERS UND ALS URMUTTER DES MINOTAURUS IN SEINEM LABYRINTH AUF KRETA VERWEIST AUF DAS MITTELMEER ALS ZENTRUM EUROPAS UND DIE BESONDERHEIT SEINES WESENS: DIE VERNETZUNG DER UNTERSCHIEDLICHSTEN KULTUREN AN DER MITTELMEERKÜSTE UND DEN HINTERLÄNDERN IST DER URSPRUNG EINER ENTWICKLUNG, IN DER SICH DIESE REGION VON DER ÜBRIGEN WELT UNTERSCHEIDET UND IN DER DIE SPÄTERE INBESITZNAHME UND BEHERRSCHUNG DER WELT IHREN AUSGANGSPUNKT HATTE.
Und diese einzigartige Entwicklung ist von außergewöhnlicher Dynamik bestimmt, von ständiger Steigerung seiner positiven wie negativen Kreativität, seiner nach innen wie nach außen gewalttätigen Politik: Sie reicht von den Eroberungen Alexanders des Großen über das Römische Imperium (West- und Ostrom), das Heilige Deutsche Reich Römischer Nation, die Kreuzzüge, die nationalen Kriege (zwischen England, Frankreich und Spanien), die Glaubenskriege (mit dem Dreißigjährigen Krieg), die Reconquista (die Vertreibung der Araber und Juden aus Spanien), die Conquista (die Eroberung und Aufteilung Amerikas), die moderne Sklaverei (gewaltsamer Transport und Verkauf von Afrikanern nach Mittel- Süd- und Nordamerika), die Kolonisation aller Kontinente, die kapitalistische Industrialisierung mit der Verschiebung des Zentrums auf die USA, die Weltkriege, den Neokolonialismus und die transnationale Globalisierung, der Shoa, der Atombombe bis zu den Reaktorunfällen sowie der Natur-, Umwelt- und Klimakatastrophe. Kaum eine menschliche Gruppe auf dieser Erde ist nicht Akteur oder Opfer dieser Globalisierung.
In einer sehr kurzen Etappe der Menschheitsgeschichte hat sich der Planet Erde und der Weltraum stärker und nachhaltiger verändert als in den Millionen und Milliarden Jahren zuvor. Diese Entwicklung ging von Europa aus, und seine Satelliten spielten dabei die entscheidende Rolle, inzwischen ist das europäische Modell weltweit bestimmend geworden.
Fassen wir die Vorgeschichte zusammen:
Die Entwicklung zum Menschen scheint in Afrika ihren Ursprung gehabt zu haben. Die Periode der bisherigen Menschheitsgeschichte umfaßt bis zu 7 Millionen Jahre. Es immer wieder ein Glücksfall für die Forschung, wenn Skelettteile gefunden werden, die diese unendlichen Zeiträume überdauert haben. Daß so weitreichende Datierungen überhaupt möglich sind, ist modernen Zeitmeßverfahren zu verdanken, die eine hohe Zuverlässigkeit garantieren.
Die Tatsache, daß nur in Afrika solche Funde gemacht worden sind, ist kein endgültiger Beweis für die Annahme, daß es auf den anderen Kontinenten zu dieser Zeit kein menschliches Leben gegeben hat, da es von den Fundorten selber abhängt, ob Knochenmaterial überdauert. Für diese lange Periode der Menschheitsentwicklung scheint jedoch erwiesen, daß es nirgendwo menschliche Behausungen gegeben hat. Jedenfalls gibt es weltweit dafür bisher keinen Anhaltspunkt.
Überraschend früh gab es Vorstöße dieser frühen Menschengruppen in weit entfernte Gebiete und sogar Überquerungen der Meere. Das zeigen Funde in Georgien und auf Java, Spuren der Neandertaler, die frühe Besiedlung Australiens, die Ausbreitung menschlicher Gruppen im gesamten südostasiatischen Bereich und die Herausbildung weiterer Zentren der Menschheitsentwicklung in Kleinasien und in China.
Um die Menschheitsgeschichte zu verstehen, benötigen wir ein theoretisches Modell, das Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit miteinander verknüpft. Anthropologie wäre dann das Zusammendenken von Ethnologie und Archäologie. Was wir von frühzeitlichen Funden her nicht erschließen können, läßt sich in Ansätzen durch die ethnologischen Befunde überbrücken, auch wenn wir damit keine exakten wissenschaftliche Beweise erbringen können. Aber wir können allzu unsichere Spekulationen vermeiden, indem wir einige Konstanten der menschlichen Kultur berücksichtigen, die uns die Ethnologie liefert.
Überraschend ist, wie früh es kulturelle Höchstleistungen, wissenschaftliche Denkleistungen und kühne technische Erfindungen gegeben hat. Entgegen früheren Annahmen sind aber nicht unbedingt Urbanität oder privilegierte Gruppen die Voraussetzung dafür gewesen, sondern es hat unter den verschiedensten Lebensbedingungen einzelne Höchstleistungen und sehr hohe Niveaus in einzelnen Bereichen gegeben. Man betrachtet die gesamte Frühgeschichte inzwischen sehr viel differenzierter als noch vor wenigen Jahrzehnten, und man kann inzwischen davon ausgehen, daß verschiedenartigste Entwicklungsstufen nebeneinander bestanden und sich ergänzt haben. Nomadenvölker wie Dorfgemeinschaften und Stadtkulturen haben über lange Zeiträume koexistiert und sich miteinander ausgetauscht. Was wir ursprünglich Frühe Hochkulturen genannt haben, ist ein mehrfacher Sonderfall (vom Irak und Ägypten bis Peru und Mexiko), aber nicht das Durchgangsstadium aller hochentwickelten Kulturen, wie Indien, China und andere asiatische Staaten zeigen. Das Modell des archaischen Staates bildete sich aber überall auf der Grundlage von Dörfern um ein Zentrum mit einer Hierarchie, die alle Menschen der Umgebung vereinnahmte und ihre Abhängigkeit erzwang. In vielen Fällen gelang ein rational wirkendes Staatswesen mit meist sehr geometrischer Architektur und einer Superstruktur, die sich in einigen Fällen mehrere tausend Jahre hielt.
Wichtig ist dabei, daß erst auf dieser Stufe von Religion in unserem Sinne zu sprechen ist: die mythologischen Vorstellungen der elementaren Gesellschaften werden hier anders und neu organisiert, sind Teil der Hierarchie. Das ist bis heute sichtbar an der sie repräsentierenden Architektur, an den Relikten all dieser Kulturen vom frühen Irak, Ägypten bis zu den von den europäischen Eroberern hinterlassenen amerikanischen Ruinenstädten.
Es wird aber für alle Zeiten unmöglich bleiben, einen Beginn für die menschliche Kulturentwicklung zu bestimmen. Sicher ist nur, daß die Jahrhunderte lang tradierte Vorstellung von Primitivität keinen Sinn macht: Seitdem Menschen in Gruppen lebten, die sich als Gemeinschaften auffaßten und Möglichkeiten boten, unterschiedliche Fähigkeiten und Begabungen zu entwickeln und weiterzugeben, waren die Bedingungen für weitere Kulturentwicklung gegeben. Auch dafür haben Fundstücke bewiesen, daß der Beginn für Kunstwerke und Kunstpraktiken sehr viel früher liegt und ein höheres Niveau erreicht hat, als allgemein angenommen. Die ältesten je gefundenen Musikinstrumente werden auf 35 000 Jahre datiert: In der Nähe von Ulm sind Fragmente von Blasinstrumenten gefunden worden, auf deren Rekonstruktionen nicht nur Tonleitern spielbar waren, sondern die auf ihrer Oberfläche filigran geritzte Ornamente und Zeichnungen erkennen ließen.
Ebenso ist die Anlage von Städten in unserem Sinne, also mit Straßen und Plätzen und verschiedenen Berufs- und Tätigkeitsbereichen, bei weitem älter als bisher angenommen. Wenn bisher Steinzeit und Höhlenwohnungen miteinander assoziiert wurden, ist inzwischen klar geworden, daß es vor der Benutzung von Metallwerkzeugen schon komplexe Stadtanlagen aus Holzkonstruktionen gegeben hat und vor der Erfindung des Rades schon Märkte und Warenaustausch über größere Entfernungen.
Tatsächlich kann man davon ausgehen, daß schon in der Frühzeit der elementaren Dorfgesellschaften durch Ereignisse, Entdeckungen und Erfindungen entscheidende Veränderungen in bestimmten Gruppen und an bestimmten Orten vorkamen, die dann in manchen Fällen die spätere Entwicklung bestimmt haben. Beschleunigte Entwicklungen in Regionen langanhaltender Stagnation setzen immer Kontakte mit anderen Bereichen voraus: Immer schon werden einzelne Personen oder kleine Gruppen lange Wanderungen zu Fuß oder mit Booten unternommen haben, sind an ihren Ursprungsort zurückgekehrt oder haben sich am fremden Ort niedergelassen. Immer schon wird es über Mittelspersonen Kontakte über weit von einander entfernte Orte gegeben haben, und immer schon wurden Orte überfallen, besetzt und ausgeplündert, wertvolle Kult- und Kulturgegenstände erbeutet und weiterverwendet. Immer schon haben sich Kulturen an anderen bereichert, und immer schon haben Kulturen ihre Zerstörung erlebt. Ökologische Probleme wie Trockenheit und Klimabeeinflussungen entstanden durch das Abholzen von Bäumen schon in Mesopotamien, später in Griechenland, Italien und Spanien für Haus- und Schiffbau. Insofern gab es keine organische Entwicklung in einer Richtung, wie sie unserem Fortschrittsglauben entspricht, sondern Wechsel zwischen Erfolgen und Rückschlägen bis zur Erschöpfung der ökologischen Voraussetzungen von Gesellschaften auf hoher Kulturstufe (John Seymour).
Europa setzt in seiner arroganten Selbstverblendung jeder Weltsicht Widerstände entgegen, die nicht der Struktur der spezifisch europäischen Geschichte entspricht. Aber gerade der europäische Geist ist durch seine Globalvernetzung auch zur Infragestellung seiner Voraussetzungen fähig. Naturzerstörung, Gewalt, Krieg und Raub werden in der frühen Geschichte der Menschheit die Ausnahme gewesen sein: Man sollte sich klar machen: noch heute ist weltweit ein ungeschriebenes Gastrecht und Respekt vor dem anderen und dem Fremden üblich. Der Austausch bestand in uneigennützig gegebenen Geschenken und Gegengeschenken. Man empfand den Austausch selbst als Bereicherung im materiellen wie ideellen Sinn. Nicht der aggressive oder kriegerische Aspekt ist auf der elementaren Ebene menschlicher Existenz bestimmend gewesen, sondern man muss die Selbstverständlichkeit der bisherigen Position gegenüber dem Wesen des Menschen in Frage stellen: Die Menschheitsgeschichte sollte begriffen werden als Geschichte der Kooperation.
Aufkündigung der Gegenseitigkeit und der Verantwortung vor der Natur:
Wenn wir die europäische Geschichte und ihre Folgen ergründen wollen, müssen wir untersuchen, wie es zum Bruch mit diesem Prinzip kam. Denn alles spricht dafür, daß bei der Erforschung und Entdeckung der ihnen neuen Welt eine besondere Fähigkeit zur Aneignung fremder Elemente die europaspezifische Beschleunigungsentwicklung begründet. Europäer lernten es, brutal und ohne Rücksicht auf das Wesen der in ihren Aktionskreis geratenen Völkern und Kulturen, ihren eigenen Vorteil zu organisieren und die von ihnen verursachten Opfer zu ignorieren.
Beim Aufeinandertreffen der europäischen Siedler mit der indianischen Urbevölkerung zeigt sich ein besonders tragischer historischer Tatbestand. Für die nordamerikanischen Indianer war die Landschaft heilige Erde. Für die Einwanderer potentieller Besitz. Da die Indianer die Möglichkeit ausschlossen, daß ein Mensch die ihm heilige Erde besetzt oder besitzt, waren sie völlig wehrlos gegenüber der Inbesitznahme eines Territoriums, das seit mythischen Zeiten die Wiege ihrer Ahnen gewesen war – und sie kämpfen bis heute darum, daß ihnen zurückgegeben wird, was ihnen in ihrem Sinne nicht gehörte, was ihnen aber zu Unrecht genommen worden ist. Wenn es Verträge und Geldzahlungen geben hat, hat es sich für sie um Verrat, Betrug oder um ihre Treuherzigkeit ausnutzende Irreführung gehandelt.
Die Kolonisierung innerhalb der hellenischen Welt und die Versklavung der durch Kriege unterworfener Bevölkerungen ist das Modell für die spätere weltweite Entwicklung. Die Entstehung des Christentums, die Gründung der Staatskirche und die Missionierung immer größerer Gebiete ging einher mit dem Verschwinden der ortsgebundenen einheimischen Religionen und dem kulturellen Eigenleben der unterworfenen Völker. Die christliche Moral diente dabei der Legitimierung von Macht und Unterdrückung und versagte entgegen seinem Anspruch und Selbstverständnis als Korrektiv der wirtschaftlichen und militärischen Fehlentwicklungen. Dem Christentum war gesellschaftliches Denken von vornherein fremd. Zielsetzungen für ein soziales Zusammenleben waren nur auf die Familie oder Gemeinde bezogen. In den Anfangsjahren richtete sich durch die Erwartung eines Endes der Zeiten der Blick ohnehin nicht auf die Gegenwart und die gesellschaftlichen Zustände. Man kann sogar annehmen, daß der Glaube an einen Heilsplan, der vor seiner Erfüllung eine Phase der Katastrophen durchläuft, an der Verantwortungslosigkeit der westlichen Welt beteiligt ist, die Kriege, Völkermord, Hunger, Elend und Flucht in Kauf nimmt, weil die Hoffnung besteht, daß jedes Hilfsprogramm auch noch wieder zu einem Geschäft werden kann.
Was Europa von Anfang an gefehlt hat, war eine realistische Wahrnehmung seiner Fehlentwicklungen. Die Ideen über den idealen Staat waren vom elitären Gesichtspunkt der Stadtkulturen bestimmt. Es gab kein europäisches Konzept eines ausgewogenen Zusammenwirkens der gesellschaftlichen Kräfte und einer gerechten Verteilung der Güter, Philosophie und Religion boten keinen Ansatz zu einer Korrektur, sondern stützten das Denken in Privilegien. Auch die Kirche war mit den Dynastien in den Kampf um Hegemonie verwickelt.
Eine Zwischenphase neuer und wachsender Stadtgründungen und Märkten mit sich ausweitendem Handel ermöglichte Wohlstand und ein bürgerliches Gemeinschaftsleben mit Orientierung an die antike Stadtdemokratie (Titel wie Senat und, Senatoren deuten das an). Die Landwirtschaft profitierte aber nicht vom Aufblühen der Städte, sondern viele Bauern entzogen sich der Leibeigenschaft, um ein der Stadt ein freies Leben zu finden. Das Vorteilsprinzip führte schon früh zu einer Abhängigkeit und Ausbeutung der Bauern und unverhältnismäßigem Reichtum der Städter. Militärische Einfälle in benachbarte oder auch entfernte Länder wurden zum Prinzip europäischer Machterweiterung. Diese Entwicklung wurde zum Modell eines bis in die Zukunft reichenden globalen Prozesses.
Die immer größere Zahl an Erfindungen und ihre immer schnellere Weiterentwicklung hätte einen wirklichen Fortschritt für die Menschheit bringen können, wenn sie verantwortungsvoll für das Allgemeinwohl eingesetzt worden wären. Aber wie allein das Beispiel Schießpulver zeigt, Gewehre und Kanonen und damit die ganze Artillerie wurden in einem relativ kurzen historischen Zeitraum entwickelt und bestimmten nicht nur die Kriegsführung in Europa, sondern ermöglichten auch die Eroberung eines ganzen Kontinentes mit einer geringen Anzahl von Bewaffneten. Die Erfindung der Druckerpresse, der mechanische Webstuhl, die Dampfturbine und damit die Eisenbahn und die Dampfschiffahrt, die Förderung von Kohle und Erdöl als Verbrennungs- und Treibstoff, der Benzinmotor und damit das Auto und Flugzeug, Panzer und Bomber, Kunstdünger und Kunststoffe, Antibiotika, Kernspaltung und damit Atombombe und Atomkraftwerke, Telefon- und Telekommunikation, Computer und Mobiltelefon sowie alle aktuellen Erfindungen werden sofort als Massenprodukte weltweit zum Geschäft. Einmal erreichte Produktionszahlen müssen immer noch gesteigert werden. Der Zwang zum immer weiteren Wirtschaftswachstum auf niedrigstmöglichem Kostenniveau lässt es unmöglich erscheinen, sich längst abzeichnende Katastrophen aufzuhalten. Transnationale Konzerne spalten den Herstellungsprozess so auf, daß die weltweit billigsten Arbeitsplätze miteinander vernetzt sind.
Die Zerstörung der einheimische Märkte und der Selbstversorgung gefährdet zunehmend die Existenz der Landbevölkerungen und löst massenhafte Flüchtlingsströme aus. Millionen von Menschen leben inzwischen in Zeltstädten und in Elendsquartieren am Rand der Metropolen. Gruppeninteressen lösen militärische Konflikte aus, durch die immer mehr Menschen lebensgefährliche Fluchtwege über das Mittelmeer nach Europa suchen und an vielen Orten kaum lösbare Integrationsprobleme darstellen.
Die gewaltsame Inbesitznahme fremder Orte und Gebiete und ihre rücksichtslose Ausbeutung setzt also voraus, daß es keinen Respekt vor der weltweit allen Menschen heiligen Erde mehr gibt und daß die traditionelle Gegenseitigkeit von Geben und Nehmen zwischen einzelnen Menschen, Gruppen und Gesellschaften und aufgekündigt ist. Bei der Asymmetrie zwischen privilegierten urbanen Zentren und unterentwickelten Randzonen mit anwachsender Bevölkerung scheint es keine Möglichkeit der Balance zu geben: die Aufspaltung der Bevölkerungen in Reich und Arm, die Vergiftung der Umwelt einschließlich der Ozeane, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die Vernichtung der Regenwälder und die Gefährdung des Weltklimas scheinen unaufhaltsam. Die beschleunigte Krisenentwicklung, in die das Wirtschaftssystem der Achse Europa-USA die übrige Welt hineinreißt, gerät dabei in eine den frühen Hochkulturen ähnliche Problematik, indem der Triumph der abstrakten Gestaltungsmacht in Form des entfesselten Banken- und Aktienkapitals seine eigenen Voraussetzungen zerstört.
Entfernteste Orte der Welt sind immer mehr zusammengerückt, die wirtschafts-politisch-ökologische Situation ist aber für die Bevölkerungsmehrheit zu einem unentrinnbaren und undurchschaubaren Labyrinth geworden, das wie in Picassos Guernica-Wandbild einer Arena gleicht, in der Tiere wie Menschen im tödlichen Entsetzen erstarren.
Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Hölderlin)
MINOTAURUS
Der Mythos von Europas Entführung durch Zeus in Gestalt des weißen Stiers und als
Urmutter des Minotaurus in seinem Labyrinth auf Kreta verweist auf das Mittelmeer als
Zentrum Europas und auf die Besonderheit seines Wesens: Der Grad und die Art der
Vernetzung der unterschiedlichsten Kulturen an der Mittelmeerküste und den Hinterländern
ist der Ursprung einer Entwicklung, in der sich diese Region von der übrigen Welt
unterscheidet und in dem die spätere Inbesitznahme und Beherrschung der Welt ihren
Ausgangspunkt hatte.
Und diese einzigartige Entwicklung ist von außergewöhnlicher Dynamik bestimmt, von
ständiger Steigerung seiner positiven wie negativen Kreativität, seiner nach innen wie nach
außen gewalttätigen Politik: Sie reicht über die Kreuzzüge, die Glaubenskriege, die
Reconquista, die Vertreibung der Araber und Juden aus Spanien, die Conquista, die
Eroberung und Aufteilung Amerikas, die Kolonisation, die Weltkriege, den Holocaust, der
Atombombenabwurf bis zur Natur-, Umwelt- und Klimakatastrophe, wobei die USA und
mehr und mehr andere Staaten in diese Entwicklung einbezogen sind. Kaum eine
menschliche Gruppe auf dieser Erde ist nicht Akteur oder Opfer dieser Globalisierung.
In einer sehr kurzen Etappe der Menschheitsgeschichte hat sich der Planet Erde und der
Weltraum stärker und nachhaltiger verändert als in den Millionen und Milliarden Jahren
zuvor. Und Europa und seine Satelliten spielen dabei die entscheidende Rolle.
ZIEL
Ich möchte dazu beitragen, daß wir unsere eigene, europäische, amerikanische, westliche
Verantwortung für die aus der Kontrolle geratene Globalisierungsdynamik bewusst auf uns
nehmen. Das Werk Pablo Nerudas, vor allem sein Canto general, der Gesang der Welt ist für
mich eine große Chance, die Position der Anderen, auf dieser Welt, der Märtyrer und Opfer
einzunehmen. Mein Das Fest der Liebe ist ein Versuch, den Widerspruch innerhalb unserer
Kultur zwischen emphatischer Solidarität, wie sie im Kern der christlichen Botschaft
enthalten ist, und ihrer Aufkündigung und Leugnung zu benennen: Ich schlage vor, die heute
für immer mehr Menschen beherrschbare Kommunikationstechnologie zu nutzen, um den
Ohnmächtigen und Sprachlosen gegenüber der Übermacht zur Formulierung ihrer
Interessen zu verhelfen – als ein utopischer Entwurf eines Netzwerkes weltweiter
Verständigung.
VORGEHENSWEISE
Ich möchte vom symbolischen Denken und dem kontroversen Diskurs, das zwangsläufig
elitär und exklusiv unsere abendländische Tradition bestimmt und steuert, herunterkommen
zum konkreten und wilden Denken, wie es Lévi-Strauss skizziert hat. Ich möchte, daß die
Kompetenzen der Einzelnen sich ergänzen statt zu konkurrieren und daß Bausteine des
Wissens, auf den aktuellen Stand gebracht, zusammengefügt werden können, ohne in der
Redundanz des gedruckten Wortes zu ersticken. Auch dafür bietet die
Kommunikationstechnologie ideale Möglichkeiten. Ich stelle mir ein Zusammenspiel von
Menschen vor, die sich über die Homepage oder per e-Mail informieren und vorbereiten,
korrigierend und ergänzend reagieren und im persönlichem Austausch eine Entwicklung
beginnen, in die dann andere einbezogen werden können.
Ich nenne mein Vorhaben
vorläufig ÜBERSETZUNGSWERKSTATT, weil am Beginn meiner eigenen
Kreativitätsentwicklung das Spiel mit meiner eigenen Sprache und das Verhältnis
verschiedener Sprachen und Denkweisen zueinander stand, weil dann das Übersetzen aus
anderen Sprachen über lange Zeit meine Lieblingsbeschäftigung war und zuletzt, weil der
Canto general und das Werk Nerudas mich mit Menschen anderer Kulturkreise
zusammengebracht und ungeahnte Kräfte in mir freigesetzt hat. Ich hoffe, es gibt einen
Weg, über das Monologische und Einsprachige hinauszukommen, das unserer
gesellschaftlichen Isolation entspricht, eine unkompliziertere und effektivere Verständigung
in der Öffentlichkeit zu erreichen,
und an diesem Prozeß andere zu beteiligen und mitzunehmen, um so eine weltoffene und
praktikable Kommunikation in der Vielfalt von Perspektiven, Traditionen und Kulturen zu
erreichen.
ÜBERSETZUNGSWERKSTATT
JEDER GESCHRIEBENE ODER GEDRUCKTE TEXT IST EIGENTLICH VERSTUMMTE GESPROCHENE SPRACHE
|
BEI JEDEM LESEN WANDELN WIR DIE SPRACHE EINES AUTORS IN UNSERE EIGENE SPRACHE UM
|
BEIM ÜBERSETZEN HÖREN WIR INNERLICH ZWEI GESPROCHENE SPRACHEN IM DIALOG
|
ÜBERSETZEN IST WIE EINE FÄHRE ODER BRÜCKE ZWISCHEN DEN BEIDEN UFERN EINES FLUSSES
|
DER ÜBERSETZTE TEXT SOLLTE WIE EIN OFFENES FENSTER ZUM ORIGINAL SEIN
|
SPANISCH-DEUTSCH
PABLO NERUDA - GESANG DER WELT
Der Canto general von Pablo Neruda lag bisher in einer Übersetzung vor, die sich nicht zum Sprechen eignete und auch bei interessierten Lesern wenig Anklang fand. Der Canto gilt als eines der Hauptwerke des 20. Jahrhunderts und als großes Werk der Weltliteratur. Er erzählt die Geschichte Amerikas seit dem Beginn der Inbesitznahme durch die Europäer. Das 500jährige Martyrium seiner ursprünglichen Bewohner, ihr Widerstand und ihre Niederlagen bis in die aktuelle Situation der Globalisierung, verbunden mit der persönlichen politischen Karriere seines Autors und seine Bewunderung für die Kultur und Natur seines Landes und der Welt ist das Thema dieses in freien Versen geschriebenen monumentalen Werks.
Aus rechtlichen Gründen ist eine alternative Übersetzung zur Zeit auf dem Buchmarkt nicht durchsetzbar. Da der Schauspieler Rolf Becker ein Hörbuch auf der Grundlage einer sprechbaren Übersetzung machen möchte, wollen wir eine öffentliche Diskussion über diesen Fall. Die Buchausgabe einer aktuellen Übersetzung sollte zweisprachig sein, außerdem wäre eine gekürzte Ausgabe für Jugendliche mit dem historischen Teil als Schwerpunkt sinnvoll.
Ich habe auch aus dem übrigen Werk Nerudas mehrere Reihen von Texten neu übersetzt. Die frühen surrealistischen Texte Zorn und Trauer Nerudas waren auch schon von Enzensberger unter anderem Titel übersetzt und bedürfen dringend einer sprachlichen Überarbeitung und Aktualisierung, Didi Tonini hat mehrere Zyklen von Liebesgedichten und anderen Versen zusammengestellt. Ich habe die Textfolge nach dem Soundtrack aus dem Film Il Postino (Der Briefträger) neu übersetzt.
FRANZÖSISCH-DEUTSCH
STÉPHANE MALLARMÉ - FAUN – HERODIAS - WÜRFELWURF
Bei der Übersetzung Nerudas hat mir meine Kenntnis der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die ihn in seiner Jugend inspiriert hat sicherlich sehr geholfen. Ein Foto von Baudelaire ist auf seinem Schreibtisch in Isla Negra zu sehen. Ich habe mich vor allem mit Maltarme beschäftigt, der in Deutschland meiner Meinung nach unterschätzt und mißverstanden wird. Ich habe die Hauptwerke, also den Nachmittag eines Fauns, Herodiade und Würfelwurf wie die schmale Gedichtsammlung neu übersetzt und glaube, auch in sehr heiklen Fällen die Lösung gefunden zu haben.
TREIBGUT
Mir ist erst im Zusammenhang mit meinen Neruda-Übersetzungen bewußt geworden, welche Rolle die Übersetzung bei mir schon seit meiner Jugend gespielt hat. Ich war mir sehr früh darüber im Klaren, daß der Kontext eines Textes erfasst werden muß. Beim Übersetzen von Versen ist Goethes Auffassung, daß der Sinn nicht der Form geopfert werden sollte, nach wie vor richtig. Wenn es gelingen sollte, eine deutsche Formentsprechung für ein Gebilde romanischer Verskunst zu finden, verdient das natürlich Bewunderung.
Ich habe eine Auswahl meiner frühesten Übersetzungsversuche und spätere aus dem Englischen, Französischen, Italienischen, Spanischen und Brasilianisch-Portugiesischen zu einer bunten Sammlung zusammengestellt und mit Kommentaren begleitet. Darunter sind auch weitere Texte von Neruda.
RUNDER TISCH
DISKUSSION
MINOTAURUS
Ich verfolge den Mythos Europas als das verborgene Irrationale unter der Herrschaft der abstrakten Logik: wie sich aus der engen Vernetzung der Mittelmeerkulturen untereinander und mit der südlichen und östlichen Welt sich die heutige Weltsituation mit zunehmender Dynamik entwickelt. Das Selbstverständnis Europas erfordert auch den Blick von außen.
ARS NOVA - MUSIK DER STUNDE NULL
Die Tabula rasa durch die christliche Mission als Begleiter und Wegbereiter der römischen Kolonisierung hat die kulturellen Voraussetzungen der unterworfenen Länder bis auf die Wurzeln zu zerstören versucht. Trotzdem haben sich Traditionen im Abseits gehalten und weiterentwickelt und sind in die spätere Musikentwicklung eingegangen. Es kann aber der Anschein entstehen, als sei die Musik, wie wir sie kennen wie aus dem Nichts um das Jahr 1200 geboren worden. Jedenfalls beginnen alle musikhistorischen Darstellungen so - das Vorher liegt im Dunkel. Ich versuche, den ethnologischen Normalfall und den europäischen Sonderfall zueinander in Beziehung zu setzen.
CREDO QUIA EST ABSURDUM
Das griechisch-jüdisch-christliche Denken des Abendlandes scheint mir weniger Voraussetzung, sondern Ausdruck einer sozialökonomischen Situation in Mitteleuropa, die sich in Goyas Apercu El sueno de la razön produce monstruos artikuliert: Rationales und Irrationales scheinen unentwirrbar verquickt. Tatsachen werden als Ideologie denunziert, hochentwickelte Wissenschaftstechnologie bedroht die Existenz des Planeten Erde.
SZENISCHE LESUNG
FEST DER LIEBE
Die Texte der Apostel Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind verklungene Reden des Rabbi Jesus der später zum Gott erhoben und Christus genannt wurde. Seine Reden wurden mündlich weitergegeben und 40 Jahre nach den Ereignissen in einer anderen Sprache aufgeschrieben. Aramäisch Gesprochenes wurde Griechisch aufgeschrieben, später ins Lateinische übersetzt und dann in sehr viele andere Sprachen. Am Anfang unserer Tradition steht also ein Übersetzungswerk mit entsprechenden Übertragungs-Interpretations- und Verständigungs- und natürlich Verständnisproblemen. Die eigenwillige Aneignung der ursprünglichen Gedanken des Rabbi Jesus durch den Apostel Paulus und seine organisatorisch erfolgreiche Mission in der hellenistischen Welt bildete einen neuen und anderen Verständnishorizont, und die sich bildende Kirche legte im 4. Jahrhundert dogmatische Grundsätze der Interpretation fest, die das katholische Christentum begründete, wie es für 2000 Jahre Geltung hatte.
Mein Text geht auf den Grundgedanken der Liebe von allen zu allen zurück und versucht die Möglichkeiten und Grenzen zu durchdenken, die daraus hervorgehen.
Ich durchlaufe die Zeiten vom Jahre 0 über eine Szene zum Zeitpunkt von 1400 bis heute und schließe mit einem Ausblick in die Zukunft. Ich entwerfe Möglichkeiten einer weltweit gemeinsamen Sprache der Sprachlosen durch Ausnutzung neuer Kommunikationstechnologien: Daher nenne ich meinen Text utopischen Entwurf.
APHORISMEN
WIR UND HEUTE
Meine Gesprächsnotizen belasse ich oft in einer Form von Aphorismen, die meiner persönlichen Art entsprechen, mit Sprache (nicht nur Deutsch) zu spielen (à la Lewis Carroll und James Joyce). Viele der kurzen Sätze könnten wieder Themen für längere Ausführungen und Reflexionen am runden Tisch abgeben.
VORSCHLÄGE
(À LA RADIOTHEORIE VON B. BRECHT):
KOMPETENTE DEMOKRATIE ODER 3 ÖFFENTLICHKEITEN UND DIE LEERE MITTE
Wenn wir Öffentlichkeit sagen, meinen wir entweder die repräsentative Öffentlichkeit der Parlamente oder die Medienöffentlichkeit; meistens meinen wir nur noch die Medien. Ein anderer – der eigentliche Aspekt der Öffentlichkeit kommt immer nur am Rande vor - meistens bei der Erörterung der Krise des Urbanen, wenn man von der klassischen Demokratie der antiken Polis ausgeht, der griechischen Agora und dem römischen Forum.: Das Zusammenkommen nicht gewählter und nicht beauftragter Bürger an einem öffentlichen Ort mit der Möglichkeit, Zustimmung oder Ablehnung zum Wirken der Repräsentanten zu äußern. Aber eigentlich wäre ein weiterer Aspekt noch wichtiger: Nicht der öffentliche Platz, der in den ins Unübersehbare anwachsenden Metropolen nie mehr eine der Stadtstaatdemokratie vergleichbare Funktion haben kann, sondern die öffentliche Kommunikation einer Gemeinschaft von Menschen, die weder in der parlamentarischen Demokratie repräsentiert werden, noch in der Medienöffentlichkeit eine Rolle spielen.
Somit kommt ein starkes kreatives und intelligentes Potential nicht zur Geltung. Ein großer Teil dieses Potentials bleibt hinter geschlossenen Türen, als Sache des Einzelnen und eines engen Freundes- und Bekanntenkreises. Auch die Vielzahl von Vereinigungen bis zu Nichtregierungsorganisationen überschreitet ihr eigenes Umfeld nur in Ausnahmefällen, meist durch spektakuläre Aktionen, die dann in der Medienöffentlichkeit ankommen und wieder untergehen.
Allein die Bürgerinitiativen der 70er Jahre haben eine Zeit lang unterschiedliche politische Lager angenähert, berufliche Gruppierungen zusammengeführt, örtliche Verbindungen geschaffen, Generationsgrenzen überschritten usw., aber mit der Etablierung der Grünen ist dieser Ansatz wieder in der angepaßten repräsentativen Öffentlichkeit aufgegangen.
Ist Brechts Vorschlag für interaktive Kommunikation, wie er sie in seiner Radiotheorie entwickelt hat, durch die neue Kommunikationstechnologie inzwischen realisierbar?
Tatsächlich könnte das Internet die Brücke bilden zwischen den isolierten Personen aller Orte, Berufe und Gemeinschaften, um Gedanken über Sorgen und Ideen zur Problemlösung auszutauschen.
LERNEN LERNEN
In Deutschland ist Schule, Lernen und Lehren negativ besetzt und unterentwickelt. Sensibilität für Begabungen und Begabungsförderung kommt zu kurz - mit oft tragischen Auswirkungen für junge Menschen mit Hochbegabungen oder Sonderbegabungen. Individuelle Betreuung und ein Zusammenwirken mit den Familien gibt es nur in Ausnahmefällen. Ich fasse einige grundsätzliche Überlegungen zusammen und stelle die Protokolle der ersten 10 Minuten zweier Unterrichtsstunden zur Diskussion.
DAS TOTE LIED
Die deutsche Identitätsstörung, die Voraussetzung für den Faschismus war, der sie aber noch verstärkt hat, stellt sich auch im Verlust der Liedtradition dar. Ich plädiere für eine genaue Textanalyse und eine darauf aufbauende Musikalisierung am Beispiel der Lorelei von Heinrich Heine. Heines eigene französische Version sowie Übersetzungen ins Spanische, italienische und Amerikanische sollen mit Rückübersetzungen ins Deutsche und dem Original verglichen werden. Ich glaube, daß eine Wiederbelebung auch ein tieferes Textverständnis voraussetzt.
EMPFEHLUNGEN
DER ARCHAISCHE STAAT Stefan Breuer
TRAURIGE TROPEN Levi-Strauss
DIE VERDAMMTEN DIESER ERDE Franz Fanon – Satre
DIE OFFENEN ADERN LATEIN AMERIKAS Eduardo Galeano
DAS PROBLEM DES ANDEREN Tzvetan Todorov
Der Bulgare Todorov stellt in seinem Werk über die Conquista mit dem Titel Dos Problem des Anderen eine These auf, die in ihrer Bedeutung für das Thema bei uns nicht wahrgenommen wurde: Er schreibt, die Überlegenheit der Spanier, und damit der Westeuropäer, sei in ihrer weit entwickelten Fähigkeit zur Kommunikation mit den Menschen begründet gewesen. Nicht in der Fähigkeit, den anderen zu verstehen, sondern ihm seinen Platz zuzuweisen. Den Anderen zu verstehen hätte bedeutet, den Aspekt, der für die Uramerikaner konstitutiv gewesen sei, nämlich die Kommunikation mit der Welt anzuerkennen. Die Amerikaner hätten in einem stabilen, wenn nicht starren System ihrer Beziehungen zur Welt gelebt, darin wären ihre hohen Kulturleistungen wie auch die abschreckenden Elemente der Opferkulte begründet gewesen. Die Spanier hingegen hätten ihre Bindungen an ihre Traditionen wie das Christentum nach Belieben eingesetzt - im geschickten Poker um Macht und Einfluß -ohne sich gegenüber einer geheiligten Ordnung verpflichtet zu fühlen.
Die Abgetrenntheit der amerikanischen Welt von der übrigen hat ihre Einzigartigkeit ermöglicht, stellt aber im Austausch mit den von außen kommenden Kultur eine Schwäche dar. Die Europäer sind dagegen über Jahrtausende global vernetzt und gewinnen in der Ausschöpfung der Möglichkeiten dieser Vernetzung ihre autonome Überlegenheit - auf Kosten ihrer Kommunikation mit der Welt. In der Konsequenz dieser Einseitigkeit droht der Kollaps der nichtmenschlichen Kommunikation, der Kommunikation mit Tieren, Pflanzen Umwelt, Klima - dem Kosmos. Und das, obwohl wir fast alles darüber wissen. Aber dieses Wissen ist nur vorhanden, ist nicht integrativer Bestandteil unserer Kultur und unseres praktischen Handelns. Die zerstörten Reiche der Azteken, Maya und Inkas könnten wie viele von Europa geopferte oder zerstörte Kulturen wertvolle Hinweise geben, wie der Andere und das Andere -Mensch und Welt - ihr Gleichgewicht wieder finden könnten.
Harald Meyer
Ich bin 1944 im letzten Kriegsjahr geboren und in der Bremer Neustadt aufgewachsen, wo meine Eltern ein Handelsvertretungsbüro für Tabakwaren betrieben. Betroffen von den frühen Eindrücken zwischen den Ruinen habe ich das Gefühl einer bedrohten Welt in mir bewahrt. Ich habe Bremen die einschneidenden Veränderungen der Nachkriegszeit sehr bewusst erlebt: Nach dem Wiederaufbau verdrängte der Autoverkehr das Leben von der Straße, das Fernsehen band die Menschen an ihre Wohnungen. Mit den neuen Supermärkten schlossen viele kleine Läden. Während wir noch auf der Straße spielen konnten, alle Nachbarn kannten und sie uns, erleben die jetzt Heranwachsenden die gleiche Straße als völlig anonym.
Ich habe immer schon sehr viel gelesen. Die Grundschule hat mich eher gelangweilt, das Gymnasium, das eine reine Jungenschule war, empfand ich als kalt und abweisend. Ich fand zwar Freunde, mit denen ich bis heute eng verbunden bin, ich konnte mich aber nur mit wenigen Lehrern identifizieren oder von ihnen verstanden fühlen. So zog ich mich in die Lektüre von Lyrik und Hören von Musik und Klavierspielen zurück. Adornos Texte und Radiovorträge machten mir Mut, mich der in den 50ern vorherrschenden Oberflächlichkeit und Verdrängung nicht anzupassen.
Während des Zivildienstes in München ab 63 kam ich mit weltoffeneren Menschen als bisher zusammen und lernte durch einen Schweizer Freund Französisch und durch eine chilenische Freundin Spanisch. Einen starken Impuls erfuhr ich dann wieder in Bremen durch die aufregende Zeit der Theaterrevolution unter Hübner und Zadek, und ich lernte schon Rolf Becker kennen, der schon damals durch sein politisches Engagement Aufsehen erregte. Die wilden Diskussionen dieser Zeit haben in mir die Vorstellung entstehen lassen, der Kulturbetrieb müsse sich zukünftig vom kulinarischen Konsum weg und zur kreativ-aktiven (Mit-)gestaltung hin entwickeln. Ich fand visionäre Momente in dieser Richtung in der Prosa von Stéphane Mallarmé, die allerdings noch hermetischer war als die Adornos. Sie zwang mich zu einer Art des Übersetzens, bei der ich immer vertrauter mit dem Französischen wurde. Im weiteren waren es die Werke des Ethnologen Claude Lévi-Strauss, deren Lektüre mich faszinierte, weil sie mir weitreichende Antworten auf die aktuellen Fragen zu geben schienen: Worin eigentlich Gemeinschaftsleben besteht und wie sich Kulturen zueinander verhalten.
Mein Studium in Hamburg ab 69 empfand ich als völlig unergiebig, ausgenommen nur eine Phase in einem selbstorganisierten Schulunterrichtsprojekt. Ich habe dann ab 75 über Jahre individuelle Förderung von Schulversagern, Verhaltensgestörten, und Lernbehinderten praktiziert. Nebenher hab ich meiner Musik, Lese- und Übersetzungsleidenschaft hemmungslos nachgegeben, ohne mich davon stören zu lassen, dass diese einsame Beschäftigung für die meisten Menschen meiner Umgebung etwas rätselhaft wirkte. Nebenher übersetzte ich unter anderem das gesamte lyrische Werk von Mallarmé. Andererseits habe ich kaum den Kontakt mit der akademischen oder literarischen Welt gesucht.
Erst als ich viel später in einem Chor mitwirkte und durch die Übersetzung einiger Texte von Pablo Neruda in dem ORATORIUM CANTO GENERAL von Mikis Theodorakis mit dem Schauspieler Rolf Becker in Verbindung kam, der im August 1996 meinen Text bei einem Open-Air-Konzert im Hamburger Stadtpark vortrug, drangen meine Fähigkeiten nach außen. Aber es vergingen noch einmal 10 Jahre, bis mir Rolf Becker den Anstoß gab, für ein Hörbuch größere Teile aus dem CANTO GENERAL zu übersetzen. Ich kam dann mit in Hamburg lebenden Chilenen in Kontakt und übersetzte für Didi Tonini, die Neruda noch persönlich kennen gelernt hatte, Liebesgedichte und andere Texte aus dessen übrigem Werk.
Meine Übersetzung der dem Oratorium von Miki Theodorakis zugrunde liegenden Texte von Neruda wurde von Chören an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik übernommen, auch in Programmheften abgedruckt und von Rolf Becker gesprochen.
Das offensichtliche Gelingen meiner Übersetzungen und der unerwartete öffentliche Erfolg beim Lesen meiner Texte, beflügelte mich schließlich zum Schreiben eigener Texte: Gedankengänge, die sich über Jahren mit Freunden erörtert hatte und die ich auch immer wieder skizzenhaft notiert hatte, konnte ich jetzt nicht nur ausformulieren, sondern ich war plötzlich auch fähig, literarische Formen auszuprobieren, so dass seitdem eine Vielzahl verschiedenartiger Texte entstanden: Ich schrieb unter anderem eine Folge von Dialogen oder Gesprächen, in denen ich die Möglichkeiten hierarchiefreier Kommunikation behandele und die als szenische Lesung aufgeführt werden könnten, Essays mit entsprechenden kulturtheoretischen und kommunikationspolitischen Themen, Verse und Aphorismen.
Daneben begann ich ab 2007, mit Musikern zusammenzuarbeiten und im Wechsel mit spanischen Sprechern meine Übersetzungen auch selber öffentlich zu rezitieren. Es kamen auch Übersetzungen populärerer Liedtexte wie Boleros und Tangos, unter anderem von Piazolla dazu. Schließlich stieg ich noch in eine spanisch-deutschen Vormittagssendung im kommunalen Sender Tide 96.0 ein. Mein Partner wurde der Chilene Armando Freyhofer, mit ihm und Katy Rastocny als spanischsprachige Sprecher moderierte ich über zwei Jahre lang eine Sendung, die wir VOZ DEL SUR – STIMME DES SÜDENS nannten.
Mit Armando Freyhofer gab es auch mehrere Auftritte mit zweisprachigen Lesungen aus dem Werk von Pablo Neruda. Er war auch am KOLLOQUIUM PABLO NERUDA beteiligt, das am 1.11. 2012 im Instituto Cervantes stattfand. Dort habe ich einem größeren Publikum meine Übersetzung im Vergleich mit den bisher veröffentlichten Übersetzungen des CANTO GENERAL von Pablo Neruda vorgestellt.
Der LUCHTERHAND-LITERATURVERLAG, der die Erstübersetzung des Ostberliner Lyrikers Erich Arendt vom Verlag VOLK UND WELT übernahm und seitdem betreut, plant zur Zeit keine Neuauflage des CANTO GENERAL, ist aber auch nicht bereit, die Genehmigung für eine alternative Veröffentlichung zu erteilen. In Hamburg gibt es aufgrund der Aufführungstradition mit meiner Übersetzung über viele Jahre einen Kreis von Musikern, Sängern, der eine Hörbuchaufnahme konzipiert hat, die an der fehlenden Zustimmung seitens Luchterhand scheitert.
Im Frühjahr 2013 nahm ich einen hochbegabten jungen Pianisten aus Kolumbien bei mir auf, mit dem ich gemeinsame musikalisch-literarische Projekte begann. Er half mir bei der Übersetzung von Schreiben an chilenische Institutionen ins Spanische, mit denen ich versuchen will, Unterstützung zur Veröffentlichung meiner Neu-übersetzung des CANTO GENERAL zu bewirken.
Im übrigen hat sich bei mir durch meine Übersetzungserfahrung die Wahrnehmung meiner eigenen Sprache entwickelt, und so bin ich auf Defizite in der Rezitation deutscher Lyrik aufmerksam geworden, die mir früher nicht so bewußt waren. Ich habe versucht, prinzipielle Überlegungen für die Gestaltung text-immanenter Rhythmen zu formulieren und an Beispielen zu erläutern. Ich verfolge damit auch das Ziel, neue Aufführungsformen für Lyrik zu entwickeln.
Ich habe die Beschäftigung mit meinen Übersetzungen französischer Lyrik immer wieder aufgenommen und die fertiggestellten Texte von Mallarmé immer noch wieder überarbeitet. In dem Zusammenhang habe ich den Text zum NACHMITTAG EINES FAUNS mit der Musik von Debussys PRÉLUDE À L’APRÈS-MIDI D’FAUNE zusammengeführt und komme zu dem Schluß, daß die Kongruenz sehr viel größer ist, als auch von kompetentester Seite zugestanden bisher zugestanden wurde. In der Konsequenz ist ein Choreographie-Entwurf entstanden, der inzwischen John Neumeier und der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen vorliegt.
Ich lebe in Hamburg-Ohlsdorf in einer schön gelegenen Wohnung direkt am Flußlauf der Alster Das benachbarte Alsterdorf sowie Fuhlsbüttel sind Stadtteile, die gerade einen Generationswechsel erfahren und neue Nachbarschaftsverbindungen und kommunikative Orte und Projekte entstehen lassen. In Ohlsdorf war ich aktiv an einer Bürgerinitiative beteiligt, die durch einen erfolgreichen Bürgerentscheid das direkt an der Alster gelegene Freibad vor einer Zerstörung durch Wohnbebauung gerettet hat.