MUSIKALISCHE ENTWICKLUNG

 

Überlegungen von Harald Meyer

 

 

In allen Kulturen gibt es eine reiche Vielfalt von musikalischen Erscheinungen, weitgehend unerforscht und ‑ da ohne schriftliche Überlieferung ‑ oft unwiederbringlich verloren. Aber mit musikarchäologischen Bemühungen ist vieles doch annähernd rekonstruierbar. Vorhandene Texte, Beschreibungen von Einzelheiten, Abbildungen, der Bau von Instrumenten, Tanzhaltungen, an vereinzelten Orten bewahrte Überlieferungen, Weitergabe von stabilen Traditionen über Jahrhunderte (Jahrtausende), ermöglichen es, viele Lücken zu schließen.

 

In Europa sind, besonders in der Mitte, also in Deutschland, die Lücken besonders groß und es gibt teilweise kaum Anhaltspunkte, welche Musik gemacht worden wäre und überlebt hätte ohne die radikale tabula rasa der christlichen Mission.

 

Was wir Volkslied nennen, ist der Rest, Ausschnitt einer Musik, die hierzulande nicht weniger komplex gewesen sein dürfte als anderswo ‑ am musikalischen Vermögen der Deutschen besteht ja  kein Zweifel ‑ aber wenn auch große Sammlungen von Texten und Melodien existieren, fehlt es doch fast völlig an Anhaltspunkten über die Art und Weise, wie sie gestaltet wurden und es fehlt eine entsprechende Überlieferung der instrumentalen Begleitung bzw. der Ensemblemusik ohne Gesang und die art der stimmlichen Färbung wie die Melismen der Gesangsstimmen.

 

An den Rändern Europas z.B. in Irland, wo das Christentum friedlich eingeführt wurde, hat sich eine ursprüngliche und von Generationen ohne schriftliche Fixierung weitergegebene Musiktradition erhalten ‑ aber auch bei uns gibt es Ränder wie etwa die Alpengebieten.

 

In alle Gebieten einer ungestörten  Musikentwicklung gibt es große Gruppen von Musiken, die sich in ihren Besetzung, ihren Mitteln und in ihrem Charakter deutlich unterscheiden, bzw. die ihre jeweils besonderen Eigenschaften haben:

 

DORFMUSIK

Bauernmusik, Hirtenmusik

STADTMUSIK

Bürgermusik, Straßenmusik

HOFMUSIK

Festmusik, Ballmusik

MÖNCHSMUSIK

meditative Musik

 

Grundsätzlích: Bauernmusik ist rhythmischer als bürgerliche Musik, die oft gar keine Sch1aginstrumente benutzt, Mönchsmusik ist immer ausgedehnter, ruhiger, langsamer (meditativer) als alle andere Musik, Hirtenmusik ist reich an Blasinstrumenten, größere (doppelt besetzte) Ensembles sind charakteristisch für Hofmusik und setzen einen gewissen Reichtum (bzw. die Absicht, ihn zur Schau zu stellen) voraus, während bürgerliche Musik oft gegensätzlich auf Bescheidenheit der Mittel und gesteigert Anspruch ausgerichtet ist.

 

 

 

Rhythmisch, vokal, instrumental getrennt oder gemischt oder in Verbindung mit Tanz ist alle Musik immer schon gewesen. Die archaischen Gesellschaften oder vergleichbare Gemeinschaften der 3. oder 4. Welt kennen Rituale, die ganze Tage oder Wochen andauern. Ihre Komplexität reicht bis zu Urwaldopern, wie Lévi-Strauss in Traurige Tropen von den Bororo schildert, oder Landschaftsopern, wie sie ein berühmter Dokumentarfilm über aus den 30erJahren erhalten hat.

 

Zu bestimmten Berufen, Orten und Gruppen gehören weltweit typische Arten von Musik, z.B. ähnlich gebaute und ähnlich klingende Instrumente der Bergvölker wie Zither und Dudelsack in Vietnam und den österreichischen und Schweizer Alpen.

 

Herumreisende Musiker hat es wohl sehr früh gegeben. Entsprechend waren die Einflüsse und der Austausch über große Entfernungen im Stimmklang, Musikstil, Spielweisen und Bau der Instrumente.

 

Grundlage bleiben an vielen Orten archaische Mythen bzw. mythische Gestalten und ihre Erlebnisse. Mit der Ausbreitung des Christentums wurden nicht nur die heidnischen Religionen ausgelöscht, sondern es verschwand auch die Erinnerung an die grundlegenden Mythen. Bei uns erinnern nur noch in einige Vornamen und Wochentage wie Donars-Tag und Freyas-Tag daran und meist unerkenntlich sind in vielen Ortsnamen Erinnerungen an lokale Gottheiten oder heilige Orte wie Wei(h)mar erhalten.

 

Solche Einschnitte in die Überlieferung hat es weltweit gegeben. Außergewöhnlich ist allerdings die christliche Ablehnung von Kunst und Musik (bzw. Tanz, Theater usw.) überhaupt. Da sich das Leben an der Passion orientierte und Musik und Tanz als Vergnügen aufgefaßt wurde, das die Passion mißachtete, durfte es Musik als etwas zum Leben Dazugehöriges und von Generation zu Generation Überliefertes nicht geben. Weitergabe einer Musik vom Vater an den Sohn, die identische Weitergabe an und Weiterführung in den nachfolgenden Generationen über Jahrhunderte (wie in China und Indien) – das gibt es bei uns nicht: Die Störungen Belastungen von außen haben das verhindert, auch die Nichtanerkennung als bürgerlichen Beruf. Die Familie Bach gilt in unserer Tradition als so große Ausnahme.

 

Nicht einmal in der Kirche: In den ersten tausend Jahren gab es zwar nach unserer Vorstellung den gregorianische Gesang, aber in seinem eigenen Verständnis war die Singpraxis ein getragenes und sinnstützendes Deklamieren des Textes, besonders der Psalmen. Jeder Besucher in den immer größer werdenden Kathedralen sollte auch in der hintersten Ecke erreicht werden und jedes Wort aufnehmen können, wenn er auch andererseits dieses Latein nicht in seinem Sinn verstehen konnte. Lehrmeister besuchten von Rom aus ständig die nördlichen Länder, um eine korrekte Ausführung zu erreichen und sicherzustellen.

 

Musik in unserem Sinne war an allen Orten des katholischen Einzugsbereichs innerhalb und außerhalb der Kirche unerwünscht bis untersagt.

 

Und die Orgel? In den ersten Jahrhunderten der Romanik gab es noch keine Orgeln, aber es gab sie doch erstaunlich früh, wobei die Überlieferung der Musik, die auf ihr gespielt wurde, sich nicht erhalten hat: Es mag sich um Improvisationen in geringem Umfang gehandelt haben, weil diese Instrumente wesentlich schwerer zu spielen waren als die vorangehenden der römischen Hausgottesdienste in vorchristlicher Zeit. Aufschluß über die Rolle der Orgel im Rahmen der Kirche gibt die Konstruktion der Register selber: Viele Arten Instrumente, wie wir sie als Orchesterinstrumente bzw. ihre Vorformen (wie Oboe, Trompete, Schalmei) kennen, konnten imitatorisch mit den Orgelpfeifen gespielt werden.

 

So wie die Kirchen mehr und mehr zu einem theatralischem Symbol des zukünftigen himmlischen Jerusalem wurden, so diente vermutlich die uns unbekannte Musik auf der Orgel der symbolischen Vorwegnahme einer himmlischen Musik. Ihr fast unsichtbarer Einbau in der Höhe der Gewölbe und der von oben herabflutender Klang entsprachen dieser Idee. Die menschliche Stimme wurde wahrscheinlich nie oder erst sehr spät von der Orgel begleitet ‑ das wäre der zweifelhaften Praxis außerhalb der Kirche, die sich ja nie völlig ausschließen ließ, zu ähnlich gewesen. Ihre Aufgabe war es, improvisatorisch die Übergänge zwischen den Teilen der Messe zu gestalten.

 

Aus diesem Widerspruch heraus, der einen lange anhaltenden Kreativitäts‑ wie Energiestau bildet, entfaltet sich eine zunehmende Dynamik: Musik darf es zwar nicht geben, aber Musikähnliches wird praktiziert. Irgendwann verkommt die gregorianische Gesangspraxis zur abgeflachten Routine und auf ihrer Grundlage werden neue stimmliche und später instrumentale Möglichkeiten erkundet, erst zögerlich und sehr gelehrsam innerhalb der kirchlichen Vorschriften, aber dann aufbrechend sinnlich und vital.

 

Hier beginnt dann unter dem Namen Ars Nova die uns bekannte Geschichte der abendländischen Musik: mit der frühen Mehrstimmigkeit, die bis in die Kontrapunktik der Barockzeit reicht und von Bach auf ihren absoluten Höhepunkt geführt wird.

 

Der zweite Ansatz ist, gegenläufig zur kirchlichem Kulturhoheit, im Leben der reichgewordenen europäischen Städte die Lücken zu füllen, die im Vergleich mit anderen Kulturorten der Gegenwart und Vergangenheit empfunden werden: Das idealisierte griechische Gesamtkunstwerk, genannt Oper bestimmt von nun an Theorie und Praxis einer neuen Musikentwicklung, am Anfang dieser Renaissance steht d e r griechische Mythos der Musik überhaupt: Orpheus von Monteverdi.

 

Die Musik des 2. Jahrtausends besteht aber nicht nur aus gelehrten Konstruktionen, sondern die ins Abseits gestellte Musik der europäischen Landschaften wird mit dem noch Vorhandenen in diese Konstruktionen aufgenommen. Man hat natürliche nicht alles an Hochzeitstänzen und Spottliedern verbieten können, zum Teil ja auch integriert, wie bei Prozessionen oder im Karneval. Wenn man die Satzfolge einer Standard­-Suite durchgeht, befinden wir uns auf einer kleinen europäischen Rundreise: Allemande (deutsch), Courente (französisch), Sarabande (spanisch), Polonaise (po1nisch), Siciliana (italienisch), Gigue (schottisch jig) Das neu in den Raum gestellte und Konstruierte ist aber an dem Ausdruck Stück erkennbar geblieben. Unsere Musik ist ohne Wurzeln, die Verbindung zu ihrem ursprünglichem Leben war zu lange unterbrochen. Das Stück ist von Anfang an das frei flottierende Produkt, die Ware. Diese prinzipielle Ungebundenheit ermöglicht einerseits die Verschmelzung aller vorkommenden Elemente, kompositorischen Reflektiertheit und Perfektion, macht das Musikstück aber auch unverbindlich in seiner sozialen Funktion: austauschbar.

 

1500 begann ‑ dem Wesen der industriellen und technischen Revolution entsprechend ‑ eine weltweit einmalige Intensivierung und Expansion: Mit Italien als Ursprung, dann Frankreich und England, schließlich Österreich‑Ungarn und Deutschland als Zentrum hat sich eine Orchesterkultur und darauf bezogene Gesangskultur im Rahmen von Konzert, Oper bis Musical und Sologesang entwickelt, die Maßstab und Instrument auch für die übrige We1t geworden ist: Es entstehen bis in die USA immer größere Konzertsäle und damit der bürgerliche Musikbetrieb: Konzertorte und Tourneen der großen Orchester sind weltweit vernetzt, seit dem 20. Jahrhundert gestützt durch die Übertragungsmedien und das Kino.

 

 

 

 

Die Musik entwickelt sich parallel zu den anderen Künsten und der Industrie dynamisch, mit erzeugt immer komplexere Strukturen und Klangfarben. Das moderne Orchester mit seinem technisch ausgereiftem Instrumentarium wird noch ergänzt durch eine große Anzahl exotischer Instrumente: Damit hat diese Entwicklung ihren historischen Endpunkt erreicht – und im weiteren, wie schon bei Strawinsky und Orff, kommt es zu einer Rückbesinnung auf mittelalterliche, frühklassische und andere ältere Musik.

 

Im letzten Jahrhundert und mit dem Beginn des 3. Jahrtausends scheint sich also eine grundlegende Neubestimmung zu vollziehen: Avantgarde wird relativiert durch We1tmusik und Historische Musikpraxis. Auch das wäre ohne die Speichermedien undenkbar. Die Vorstellung, allein der Zeitgeist bestimme die Musiksprache, verflüchtigt sich, nachdem der Zwang zum Non‑Plus‑Ultra in die tendenzielle Sterilität geführt hatte.

 

Inzwischen steht im Umriß die gesamte Musikgeschichte bis zu ihren archaischen Ursprüngen und ihren Außenverbindungen wie etwa zur arabischen und asiatischen We1t als Aufführungs‑, Erlebnis‑, Hör und Lernmedium zur Verfügung. Damit gleicht sich die europäische Musik, so einzigartig sie ist, doch an den ethnologischen Normalfall an: Nachdem 500 Jahre, in allerdings zuletzt schon verlangsamten Tempo, vergangene Musik in Vergessenheit geriet, ist nicht nur die Kontinuität greifbarer geworden, sondern auch der Unterricht orientiert sich am Gesamtverlauf und Reichtum der Musikgeschichte in Europa. Damit haben sich, in Rußland für Violine und Klavier am konsequentesten, Lern‑ und Unterrichtsmodelle etabliert, die zwar weiterhin in alle Richtungen modifiziert werden, aber als solche Bestand behalten werden. Das Wohltemperierte Klavier von Bach, die Sonaten der Wiener Klassik, die Préludes und Etudes von Chopin und Debussy bis zum Mikrokosmos von Bartók stellen also in dem Sinne Klassik eine Grundlegung dar, wie in anderen Kulturen die viel älteren Überlieferungen. Damit ergibt sich zwar kein verpflichtender Kanon, aber doch eine Leitlinie, die einem Anfänger in kürzester Zeit den Anschluß an ein extrem hohes Niveau ermöglicht, an immer mehr Orten weltweit ‑ mit Defiziten allerdings bei uns in Deutschland.

 

Wir scheinen blockiert, indem wir uns daran gewöhnt haben, daß einerseíts eine naturwüchsige Entwicklung des Musikmarktes alles bisher Mögliche an Ausweitung und Niveau übertroffen hat, andererseits die Steuerung über die Medienkonzern und die Öffentlichkeit in die fa1sche Richtung geht: Die aktive Seite verkümmert gegenüber dem Konsum, Begabungsfindung und ‑entwicklung ist zufallsbestimmt und absolut durch soziale Voraussetzungen beschränkt. Angesichts der immensen Angebote mißlingt die Klärung der Ziele einer Kulturentwick1ung, in der die Musik (ebenso natürlich alle Künste) eine ganz andere Rolle spielen könnte:

 

Alle Kinder sollten so früh wie möglich Gelegenheit zur musikalischen Aktivität und Kreativität haben. Für Gesang, Tanz, Rhythmus wie Ausprobieren von Musikinstrumenten sollte es Angebote für alle geben (in Venezuela gilt die Parole: Musikinstrumente statt Waffen!)

 

 

 

 

Harald Meyer

 

DIE GROSSE LÜCKE VON 1000 JAHREN

 

Ergänzungen zur

MUSIKENTWICKLUNG

 

Die urkundliche Ersterwähnung von Ortschaften und Dörfern ist in unserer Tradition das schriftliche Zeugnis, mit dem die geschichtliche Überlieferung eines bestimmten Ortes beginnt. Überlieferung versteht sich als schriftliche: die mündliche ist verstummt. Wo es keine schriftlichen Quellen gibt, tut sich eine große Lücke auf. Wir wissen bei keinem Ort in Deutschland oder in unseren Nachbarländern auch nur das geringste über das gesprochene oder gesungene Wort über Jahrhunderte. Weil es nicht aufgeschrieben wurde? Nein, weil die mündliche Überlieferung abbrach.

 

Weltweit sind Überlieferungen über Zehntausende Jahre lebendig geblieben, indem sie vom Vater auf den Sohn, vom Meister an den Schüler, von alten Frauen an andere Frauen übertragen wurde – in einem strengen Ritual und unumstößlichen Regeln, mit absoluter Sicherheit der Texttreue.

 

Veränderungen, Erweiterungen, Bereicherungen hat es immer auch gegeben, aber sie waren selten zufällig, meistens langwierig - wie bei uns Verfassungsveränderungen. Man kann allgemein sagen, daß erst mit dem Ende einer solchen Tradition – um sie dennoch zu bewahren - ihre schriftliche Fixierung erfolgte. Die Beispiele sind uns geläufig von Homer bis des Knaben Wunderhorn der Brentanos oder die Märchen der Grimms.

 

Was ist der Grund, daß es in Zentraleuropa diese Art der kontinuierlichen Überlieferung von Generation zu Generation nicht gibt – im Gegensatz zu den Kulturen aller Kontinente? Nur ein Beispiel: Der abstrakteste indische Raga (hochverfeinerte Kunstmusik auf der Sitar, Sarangi und Flöte) läßt sich auf älteste Textüberlieferung zurückführen: mythische, dramatische, literarische Wurzeln...

 

Der Grund ist das Ausreißen dieser Wurzeln. Die christliche Kultur des Abendlandes begann mit der tabula rasa der existierenden heidnischen Kultur. Da in keiner Kultur die alltäglichen Gebräuche, die Art, Feste zu feiern, die Erzählung und Darstellung von mythischen Vorgängen, Musik und Tanz voneinander zu trennen sind, ist konnte keines dieser Elemente geduldet werden. Die ersten Missionare scheiterten zwar auch oft am Widerstand gegen ihre oft zu radikalen Versuche, mit einem Schlag verwurzelte Überlieferungen abzuschaffen, aber im Verlauf der Geschichte gelang es der Kirche immer mehr, sich von der gesamten vorangehende Kultur zu trennen und in ihrem Sinne eine neue aufzubauen. Die Gründung einer Kirche oder eines Klosters markiert insofern den Beginn  der Geschichte, wie sie auf uns überkommen ist. Davor ist die große Lücke.

 

Die europäische Identitätsstörung ist also auf die Ausrottung der Wurzeln durch die Missionierung zurückzuführen. Man muß dabei aber den Zusammenhang mit der Kolonisierung durch die Römer sehen, bei der diese Mission die flankierende Unterstützung war und ihr als Pioniertat vorausging oder sie im Nachhinein sanktionierte.

 

Die Instabilität all dessen, was wir unter Lebensstil und Ästhetik verstehen, hat mit dieser Lücke zu tun, mit dem Ausreißen der Wurzeln, mit dem Verschütten der Quellen.

 

 

 

Eine Verständigung über die Gestaltung unserer Umgebung, jetzt und in die Zukunft hinein, kann Klarheit über den einzuschlagenden Weg nur gewinnen über den Umweg einer globalen Kulturanthropologie. Die Lücke ist nicht zu schließen, aber Rahmenbedingungen für eine Kultur, die sich von Modetrends befreit, aus sich heraus lebt, allen gerecht wird und damit Stabilität gewinnt, können gefunden werden: Archäologische Funde, Erforschung vorhandener Reste von Traditionen und Rekonstruktionen in Anlehnung an Kulturen, die diese große Lücke nicht in diesem Ausmaß zu beklagen haben, liefern dafür Anhaltspunkte.

 

Musik spielt längst eine, wenn auch eher unbemerkte Pionierrolle: In den letzten 30 Jahren hat über eine Rückbesinnung auf Stufen der Entwicklung, die weitgehend in Partituren überliefert war, deren Praxis aber verloren schien, stattgefunden. Darüber hinaus hat es aber Rekonstruktionen gegeben, die auch Lücken der Schriftlosigkeit geschlossen haben. Spanische Musik aus der Zeit der arabischen Besetzung konnte beispielsweise rekonstruiert werden, indem die in Marokko noch vorhandene Praxis reimportiert wurde. Es gibt sogar den überraschenden Versuch, Musik aus dem antiken Griechenland, die völlig verstummt ist, zu rekonstruieren, indem Musikinstrumente nach den meist sehr detaillierten Vasenbildern nachgebaut wurden und deren Spielweise mit Traditionen der Mittelmeerländer in Übereinstimmung gebracht wurde. Berühmt ist seit langem eine Grabstein an der türkischen Mittelmeerküste, über dessen markierten Text sich eine Melodie und ihr Rhythmus ablesen lassen. Gesangsstile konnten über Chorgesänge, wie sie im Libanon praktiziert werden, erschlossen werden. Für den deutschen Kulturraum haben sich die Werke von Hildegard von Bingen als reiche Quelle für eine lebendige Erneuerung erwiesen.

 

 

 

Harald Meyer

DIE EUROPÄISCHE MUSIKENTWICKLUNG

 

Wenn man verstehen will, wieso die ursprünglichen Lebensauffassungen und Vorstellungen der Völker nördlich der Alpen zu Anfang des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung fast spurlos verschwinden konnten und durch fremde und andersartige ersetzt werden konnten, muß man begreifen, daß die Kolonisatoren und Missionare nicht nur den Überbau, sondern die Lebensbasis aller eroberten Bereiche grundlegend verändert haben: Die römische Latifundienwirtschaft löste die ursprünglichen Dorfsiedlungen ab, daraus entwickelte sich der typische nordalpine Großgrundbesitz mit der berüchtigten Leibeigenschaft des Feudalzeitalters. Dieser Prozeß läßt sich nur schwer nachvollziehen, weil es nur wenige schriftliche Dokumente aus dieser Periode gibt und das soziale Leben nur wenig Spuren hinterlassen hat. Auffällig ist aber der Unterschied zwischen dem hohen Niveau der Grabbeigaben vom keltischen bis slawischen Raum mit ihren kunstvollen Schmuckstücken und Waffen und der vergleichsweisen Primitivität späterer Funde: wohl Ausdruck von Identitätsverlust und Desorientierung aufgrund veränderter Voraussetzungen und kultureller Überlagerung. Die importierte römische Wirtschaftsform hatte sich als überwältigend effektiv erwiesen und ermöglichte die Integration andersartiger Kulturen. In diesem Rahmen vollzog sich auch die Übernahme einer Religion, die sich aus heterogenen Elementen zusammensetzte, also jüdischen Monotheismus, ägyptischen Priesterkult, römischen Staatskult mit christlicher Endzeitthematik zu einer synkretischen neuen Religion verband. Dabei wurden die einheimischen Jahreszeitzyklen in abgewandelter Form beibehalten und die Verehrung der lokalen Gottheiten durch die Anbetung von Heiligen ersetzt. Die Symbolik von Kreuz, Mutter und Sohn gewann eine zunehmende Dominanz ab dem 4. Jahrhundert.

 

Was mit dem traditionellen Dorfleben verloren ging, war die Selbstverständlichkeit der eigenständigen Ökonomie (und Ökologie) und die Bindung an die lokalen Götter und Schutzgeister. Sprachlich ist der Bezug auf heilige Orte in vielen Ortsnamen erhalten geblieben, aber sogar aus noch vorhanden mythischen Überlieferungen ist der ursprüngliche Funktionszusammenhang kaum noch erkennbar. Die germanische Sagenwelt führt wahrscheinlich eher in die Irre, da vor der Tabula rasa, die durch die christlichen Missionare praktiziert wurde, schon eine Angleichung mythischer Vorstellungen an die griechisch-römische Götterwelt stattgefunden hatte. Das spiegelt sich in den Namen einiger Wochentage (Wodanstag, Donarstag, Freyastag) wieder, die wie auch die Hauptfesttage Erntedank, Weihnachten, Neujahr und Ostern so fest verankert waren, daß sie sich nicht auslöschen ließen. Die Auflösung der Bindung an heilige Orte wie Quellen, Wälder und Berge und an ihre Lokalgottheiten wurde durch das spezifische  Thema der Tora begünstigt: die bedrohte Situation eines Volkes auf der Flucht, das seine Rettung von verstärktem Zusammenhalt und Unterwerfung unter ihren Gott erwartet.

 

Da es so wenig Spuren des praktischen Lebens aus den ersten Jahrhunderten dieses Umwandlungsprozesses in den nördlichen Regionen gibt, wäre in Verbindung mit immer vollständigeren archäologischen Funden der Umweg über die Erforschung einiger noch in Resten vorhanden Kulturen hilfreich, deren Leben in Dorfgemeinschaften wenigstens theoretische Rückschlüsse auf dem unserer Vorfahren entspricht.

 

Das Verhältnis des Sakralen und Profanen verwandelte sich in etwas völlig anderes: Wie bei allen indigenen Völkern wurden bei den archaischen Europäern die Tiere und Pflanzen wie Land und Meer als heilig geachtet. Die christliche Mission sah in der gesamten natürlichen Welt, da sie von Naturgeistern besetzt war, etwas Heidnisch-Verwerfliches. Heilig war für sie allein die Heilige Schrift, die das Wort Gottes von der Schöpfung bis zur Apokalypse enthielt, und dementsprechend manifestierte sich in den sakralen Bauwerken wie Kapellen, Kirchen und Klöstern die ideelle Sphäre, die das himmlische Jerusalem vorwegnahm: Durch diese Konzeption, in der die reale Welt und die Natur – wie auch die elementaren Bedürfnisse des alltäglichen Lebens entwertet und vernachlässigt wurden, war die Auflösung aller lokalen Kenntnisse, Erfahrungen und Überlieferungen eingeleitet und letztlich das ökologische Desaster bereits vorprogrammiert. Die Abholzung von Wäldern für Hausbau und Schiffe und ihre nicht Wiederaufforstung hat seit der Antike das lokale und später kontinentale Klima kontinuierlich verändert.

 

Auch wenn man die christlich motivierte Lebensfeindlichkeit als Erklärung nimmt, bleibt es doch für uns rätselhaft, daß der Auflösungsprozeß des römischen Imperiums mit seiner Verlagerung von Rom nach Byzanz so wenig schriftliche Erinnerung hinterließ. Hinterlassenschaften praktischen Lebens verschwanden fast spurlos, und abgesehen von einigen Bruchstücken existieren weder Briefe und andere persönliche Aufzeichnungen, weder Chroniken noch Erzählungen und Lieder, wie wir sie aus anderen Epochen und Kulturen kennen. Jede europäische Musikgeschichte liest sich so, als hätte es vor dem Jahre 1000 gar keine Musik gegeben. Aber der Bruch mit der als heidnisch verdammten Überlieferung erklärt nicht nur das Verschwinden des zuvor weit verbreiteten und umfangreichen antiken Bücherbestands sowohl der Wissenschaften wie der Unterhaltung, sondern auch den niedrigen Bildungsstand der gesamten Bevölkerung: Lesen und Schreiben war nur der Minderheit von Priestern möglich. Latein erwies sich dazu noch als Geheimsprache und schloß auch kirchliche Laien und sogar die Mehrheit der Mönche aus. Die Geschichtsüberlieferung besteht daher fast ausschließlich in der Selbstdarstellung der Gesellschaft, die über etwas Bildung verfügte, und beschränkt sich daher auf die Genese der europäischen Dynastien, der Kirche und der Klöster. Die Darstellung des sozialen Lebens in umfassender Weise beginnt erst mit dem Ende des Mittelalters, seitdem es Städte und städtisches Leben in unserem heutigen Sinne gibt und die “Wiedergeburt der Antike“ nicht mehr aufzuhalten ist.

 

Mit dem Jahre 1000 werden die Elemente erkennbar, die bis heute die europäische Entwicklung bestimmten: die Abhängigkeit der Bauern von den feudalen Großgrundbesitzern, die republikanische Struktur der Stadtstaaten, die monarchische der Königreiche und die Macht der Kirche, wobei die Klöster (der Zisterzienser) die kapitalistische Arbeitsorganisation begründen (zentralistische Konzerne für Landwirtschafts- und Handwerksbetriebe) und damit die innereuropäische Kolonisierung perfektionieren, während die Templer und Johanniter-(Malteser-)orden das moderne Bankensystem begründen.

 

Das Fortschrittsdenken, das technische Erfindungen mit effektiverer Organisation der Arbeit ermöglichte und geistige Neuansätze vom Humanismus über Aufklärung zur Moderne auslöste, war blind gegenüber seinen eigenen Auswirkungen. Die Erklärung dafür ist im Entstehungsprozeß dessen begründet, was wir Europäisch nennen. Die diskriminierenden Elemente, die das christliche Abendland bestimmten, sind Teil unseres Unbewußten. Ohne eine Kritik unserer kulturellen und religiösen Voraussetzungen – und ihrem Weiterwirken trotz der unaufhaltsamen Säkularisierung - bleiben wir in uns selbst befangen.

 

Aber brauchbare Kriterien für eine Neubestimmung unserer Position gewinnen wir nur im Überschreiten des europäischen Horizontes. Von den indigenen Völkern sollten wir deren Verständnis des Heiligen als Respekt vor der Unantastbarkeit natürlicher Voraussetzungen anerkennen. Von einigen asiatischen Völkern ließen sich Maßstäbe gewinnen, die sich von der aus einer einheimischer Bauernkultur erwachsenen Kontinuität herleiten - sogar von den in unserer überheblichen Definition primitiven Stammesgemeinschaften mit den bei ihnen praktizierten Ältestenräten könnten wir in Hinblick auf direkte Demokratie lernen, die Gruppierungen einzubeziehen, die sich nach ihrer Zugehörigkeit und Bildungsstand nicht als bürgerlich verstehen.

 

 

Unsere problematische Vorgeschichte scheint sich aber nicht nur im Eurozentrismus fortzusetzen, sondern wir sind auch dabei, im Westen die repräsentative Demokratie für die Zukunft festschreiben und damit Mehrheits-Demokratie verhindern, die eine Abgabe bürgerlicher Macht erfordern würde. Und damit versäumen wir, die Lernprozesse einzuleiten, die ein kompetentes Zusammenwirken aller an politischen Entscheidungen beteiligten Menschen ermöglichen könnte.