Harald Meyer

CREDO, QUIA EST ABSURDUM[1]

 

El sueño de la razon produce monstruos.

FRANCISCO DE GOYA

 

Das griechische Wort kat-holikos setzt sich zusammen aus kata und holosüber das Ganze,

die ganze Welt betreffend, alles umfassend, allumfassend, das All umfassend...

 

Das christliche Denken scheint sich seiner selbst gewiß – schließlich handelt es sich um eine zweitausendjährige Tradition, eine bei allen Anfeindungungen beeindruckend konstante Lehre, die letztlich dem wissenschaftlichen Denken behutsam angepaßt – wenn man von jungfräulicher Geburt, Auferstehung und päpstlicher Unfehlbarkeit absieht – auch mit moderner Intellektualität in Übereinstimmung zu bringen ist. Jeder Europäer wächst in dem Bewußtsein auf, im monotheistischen Christentum die aufgeklärte, in sich selbst erforschte, im rationalen Sinne allen anderen überlegene Religion zu besitzen – auch wenn er ihr persönlich und in seinem Alltagsleben keine besondere Bedeutung gibt. Aber immer, wenn bestimmte Ereignisse das christliche Europa in Berührung mit von anderen Religionen geprägten Bereichen bringen, wirkt die Überlegenheit unserer christlich geprägten Weltsicht wie selbstverständlich.

 

Die Entwicklung des Rationalen und die besondere Dynamik und Intensität dieser Entwicklung ist aber durch das zutiefst Absurde, Nicht-Rationale unserer Überlieferung strukturiert. Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer! Der Eurozentrismus verhindert, daß wir die Brüche in unseren Vorstellungen von Religion und Glauben sehen, ihr Verhältnis zu den Vorstellungswelten anderer Völker und Kulturen klären, die geschichtliche Bedingtheit all dieser Vorstellungen begreifen.

 

Das Christentum wird auch in Hinblick auf seine Geschichte einseitig in seiner Weltsicht und den damit verbundenen Intentionen dargestellt, und tatsächlich braucht man nur wenig Raum, um die wesentlichen Glaubensinhalte zusammenzustellen. Aber das Religiöse besteht wie jedes andere gesellschaftliche Element aus der Theorie und der Praxis. Nietzsches Abrechnung mit der körperfeindlichen Auswirkung des Christentum hatte so seine tiefe Berechtigung – unbestreitbar sind Sexualität und Unbewußtes zutiefst gestört und das Freudsche Unbehagen in der Kultur betraf eben dies Fundament. Umso mehr fordert die spezielle europäische Aggressionsdynamik die Analyse der Voraussetzungen! Auch wenn mit dem Ende des 2. Jahrtausends der europäischen Geschichte das Religiöse auf fast Null reduziert scheint, brauchen wir die Einsicht, daß der Religionskomplex das Rationale unserer gesamten westlichen Welt strukturiert (Doris Lessing) – und daß wir darüber nicht bewußt denken können, weil wir in seinem Schatten leben, weil es das Totale ist. Der Spanier Goya öffnete mit seinen Caprichos den Spalt in die Abgründe der Seele der Gesellschaft, und sein genialer Satz ist durch die fehlende Unterscheidung von Schlaf und Traum im Spanischen begünstigt.

 

Die Verquickung dieses Rationalen mit seinem religiösen Urgrund muß aufgedeckt werden, auch wenn es nahezu unmöglich scheint, über den eigenen Schatten zu springen, das heißt Europa von außen zu sehen. Das Rationale bedroht die Welt: Im Extrem sind es die Kernspaltung, Waffen-technologien, Industrieentwicklung, Völkermord, Kultur-, Umwelt- und Ressourcenzerstörung. Die Quelle der Bedrohung der gesamten Welt und des Weltraums liegt im Zentrum der christlich inspirierten europäischen, abendländischen! Welt. Die Tragödie der Globalisierung zwingt uns, das Besondere Europas verstehen zu lernen. Wir begreifen nicht einmal, daß wenn die Betroffenen irrational reagieren (mit Terror), die Wurzeln bei uns liegen: Die Ursache verklagt ihre Wirkung (Büchner).

 

Zurück zur Geschichte: In Zentraleuropa gestaltete sich das Religiöse mehr und mehr zu einem flottierendem Element. Die neue christliche Religion wird mal mehr über das Evangelium, mal mehr über das alte Testament aufgenommen, selten freiwillig (Irland), meist aufgezwungen. Die Geschichte des jüdischen Volkes läßt eine Verbindung mit der sogenannten Völkerwanderung zu: Eine große Zahl von Stämmen verläßt wie die Juden des alten Testaments ihren angestammten Lebensbereich und durchzieht weite Strecken, gerät mit anderen Stämmen in Konflikt, verliert die Bindung an Orte und lokale Götter, gibt Kulturelemente auf, paßt sich an – es entwickeln sich Lebensverhältnisse, in denen die nicht mehr an bestimmte Voraussetzungen gebundenen Religionselemente aufgegriffen und integriert werden.

 

Hier zeichnet sich im Kern die Warenstruktur als Bedingung und Grundlage der kapitalistischen Entwicklung ab: Wie Marx im Kommunistischen Manifest formuliert: Das an keine seiner Voraussetzungen gebundene Produkt, nur durch den abstrakten Geldwert mit allen Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten berechenbar, erreicht jeden noch so entfernten Punkt der Erde und verankert seine zerstörerische Kraft: Armut, Krankheit, Tod, Entwaldung, Vergiftung. Ungeheurer Geldreichtum der Investoren und des sie stützenden Systems von Banken und Organisationen. Diese Struktur ist analog dem sich ausweitende Universum des Katholischen und der ständigen Vermehrung der Ware Glaube in der Gloriole der Missionswerbung.

 

Während in der hellenistischen Welt die Mysterienkulte eine ähnliche Rolle spielten wie bei uns heute, nämlich als unverbindliche exotische Angebote, derer man sich nach Geschmack bedienen konnte, bewirkte die Mission des Paulus eine entscheidende Veränderung: Die Radikalität und die Selbstgewißheit, der Absolutheitsanspruch und die Strafandrohungen ignorierten Orts- und gruppenbezogene Traditionen und lösten in der Folge die Bindungen an lokale Religionspraktiken ab, die später die katholische Mission endgültig zerstörte. Diese Entwicklung vollzog sich durch alle Epochen hindurch mit Waffengewalt, Folter und Scheiterhaufen, führte über die europäischen Grenzen hinaus in den Kreuzzügen,  unmittelbar anschließend nach der Vertreibung der Araber und Juden aus Spanien zur Unterwerfung der neuen Welt in Amerika und zur neuen massenhaften Sklaverei von Afrikanern mit allen weiteren Folgen.

 

Wir Europäer wollen nicht sehen, daß der Islam auf dem Judentum und Christentum basiert und wesentlich zur Erhöhung des kulturellen Niveaus und zur Verringerung der Brutalität der Verhältnisse beigetragen hat, wie wir es auch übersehen, daß das christliche Mittelalter ohne die arabische Vermittlung nicht diese Entwicklung genommen hätte! Das hellenistische Erbe, von seinen christlichen Nachfolgern abgelehnt und vernachlässigt, ist von arabischen und jüdischen Gelehrten überliefert, übersetzt und kommentiert zu uns gekommen. Nur so konnte Aristoteles zum geistigen Vater der mittelalterlichen Philosophie werden. Die europäische Aufklärung und der moderne Humanismus basiert also auf dieser Synthese.

Das naturwissenschaftliche Denken und Forschen mußte die kirchlichen Beschränkungen überwinden und konnte sich auf arabische Beiträge stützen. Die Bau der Moschee von Cordoba ist hundert Jahre nach Mohammed (632) begonnen worden, die Kuppel im 10. Jahrhundert fertiggestellt. Der gotische Kathedralenbau, vom Moscheebau inspiriert, begann erst um 1150. Die Gotik ist nur in Konkurrenz mit der islamischen Architektur und Kunst zu verstehen. Der (spätere) Name Gotik ist ohnehin Ideologie: das Gotische bezeichnet den Anteil der Einwanderer aus dem Nordosten mit heller Hautfarbe und blonden Haaren in Andalusien  – wobei das Zentrum der Gotik eher in Südfrankreich lag – und die Phantastik der Figurenwelt bleibt unerklärt, einschließlich der Karikaturen moslemischer Elemente in Spanien. Die Überschätzung des Genuinen in der christlichen Baukultur entspricht der konstitutiven Unsicherheit des Glaubens.

 

Im übrigen gibt es erstaunliche Mißdeutungen und Fehlbeurteilungen in eigener Sache: Das Christentum entstand als synkretische Religion. Die Quellen sind der ägyptische Isis-Kult, der syrische Adonis-Kult, der griechische Dionysos-Kult, der persische Manichäismus (unsere Spaltung in Gut und Böse), der römische Kaiserkult, germanische und keltische Jahreszeitenfeste – sie wurden mit der alttestamentarisch-jüdischen und der paulinischen Jehoshua-Überlieferung in der hellenistischen Welt zu einem Konglomerat verschmolzen und unter Konstantin zur römischen Staatsreligion erhoben. Seit dem Konzil von Nicäa (325, vervollständigt 765) existieren das Dogma der Trinität, das Ritual der Messe und die in der Liturgie unantastbar verankerten Lesungen.

 

Die Rolle des Textes läßt sich mit Lacans Verwendung der Poe-Erzählung Der gestohlene Brief in Beziehung setzen: Spätestens seitdem die Texte in alle Sprachen übersetzt sind, ist die Bibel offen für allgemeine und kritische Lektüre. Aber die in Jahreszyklen angelegte Verteilung der Auswahl und die Kombination von Jehoshua-Aussagen und paulinischer Interpretation hat eine solche Festigkeit bewirkt, daß es quasi unmöglich ist, einzelne Passagen in ihren literarischen Bedeutungszusammenhängen zu lesen und zu verstehen. In diesem Sinne gibt es keine rational gehandhabte Lektüretradition und Textinterpretation!

 

Die Metonymie ist die im ersten christlichen Jahrtausend (350-1350) etablierte religiöse fundierte Denkfigur: pars pro toto. Ein Wort steht für einen Satz, ein Satz für einen Text, ein Text für ein Buch, das Buch für die Welt (dem entspricht eine berüchtigte Formulierung bei Mallarmé). Die Wortreligionen, zu denen allerdings auch der Islam zählt, sind polar zu den Erfahrungsreligionen des Fernen Ostens.

 

Wir sind abgerichtet, alle Welterfahrung soweit zu verkürzen, daß nur gilt, was Wort ist. Eine unbewußte 'chinesische Mauer' tabuisiert und grenzt die Erfahrung dessen aus, was außerhalb ist, und ermöglicht damit die Einstellung des Bewußtseins, das weltweit millionenfache Elend außerhalb des Sichtfeldes anzusiedeln, es auf vorübergehend schockierende Schlagwörter zu verengen und somit – keine Verantwortung zu (er)tragen!

 

Nicht nur die Verkündung der Menschenrechte, Demokratie, UNO, Weltwirtschaftsordnung, also der aufklärerische Teil der Globalisierung, sondern auch Gewalt, Hunger, Aids, Kinderprostitution, Kindersoldaten, Raubbau, Umwelt- und Klimazerstörung – all das geht auf unser Konto; nur können wir die Rechnung nicht bezahlen und die Entwicklung nicht stoppen, denn wir haben eine Eigendynamik in Gang gesetzt, die uns steuert. Wie sollten wir das zukünftige Schicksal des Planeten Erde in den Griff bekommen, wenn wir die negative Kehrseite unserer Rationalität ignorieren?

 



[1] Ich glaube, weil es sinnlos ist – berühmte Formel, die von Tertullian’s DE CARNE CHRISTI V abgeleitet wurde:„Gestorben ist Gottes Sohn; es ist ganz glaubhaft, weil es ungereimt (ineptum) ist. Und begraben, ist er auferstanden: es ist gewiss, weil es unmöglich ist.“