Wir haben zum Thema Faust zwei Veröffentlichungen gemacht:
eine Broschüre zur Veranstaltung am 20. Mai 2016 im Seniorenzentrum St. Markus:
Faust und die Umwelt
und das Lesebuch-Buch Edition 0 für das Leuphana-Seminar:
Ohne Pakt mit dem teufel kein Fortschritt?
Wie aktuell ist Goethes Faust für uns heute?
Für einen leichteren Zugang zu Goethes Faust
Auf mehreren Veranstaltungen des Vereins für angewandte Nachhaltigkeit VaN e.V. wurde der Versuch unternommen, die heutige Umweltproblematik mit Hilfe entsprechender Szenen aus Goethes Faust zu veranschaulichen. Goethe hat den historischen Umbruch zur Industrialisierung und die Tendenz zur Beschleunigung gespürt und zu gestalten versucht, indem er seine Protagonisten Faust und Mephisto als kreative Akteure in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Geld, Unterhaltung, Gewalt und Kolonisation auftreten ließ.
Um die Auseinandersetzung mit Goethes Text zu vertiefen, möchten wir den Teilnehmern unserer Veranstaltungen und anderen Lesern eine leicht zugängliche Kurzfassung des umfangreichen und schwer überschaubaren Gesamttextes von Faust I/II* anbieten. Wir haben dafür den Ersten Teil stark reduziert, indem wir kürzere Abschnitte aus den Monologen ausgewählt haben. Beim Zweiten Teil haben wir große Textzusammenhänge des 2. und 3. Akts unberücksichtigt gelassen, aber den 1. Akt (ohne den Anfang) und den 4. und den 5. Akt (ohne die Schlußszene) vollständig in unsere Ausgabe aufgenommen. Den Anfangsteil des 2. Aktes haben wir im Sinne der Handlungslogik dem 1. Akt vorangestellt.
Unsere Absicht war, die für Fausts Selbstdarstellung und die für die Umweltproblematik wesentlichen Passagen zu erfassen. Zur besseren Orientierung haben wir die Auswahl nach Themen gegliedert und mit entsprechenden Titelangaben versehen.
Den Abschnitten des Ersten Teils (Fausts Monologe) geben wir den Titel:
STUDIUM, MAGIE UND PAKT MIT DEM TEUFEL
Die Abschnitte aus dem Zweiten Teil bekommen die Titel:
ALCHEMIE UND EXPERIMENT (2. Akt - Verse 6564-7002)
GELD UND VERSCHWENDUNG (1. Akt - Verse 4726-5063 und 5985-6563)
GEWALT UND KOLONISATION (4. Akt, 5. Akt - Verse 11040-11590)
*Anmerkung:
Goethe hat den 1808 veröffentlichten Ersten Teil des Faust weder selber inszeniert noch aufgeführt erlebt, am Zweiten Teil hat er – mit langen Unterbrechungen - über 40 Jahre gearbeitet und ihn der Nachwelt versiegelt überlassen, ohne ihn für eine Druckausgabe oder eine Aufführung vorzubereiten. Über den uns vor allem interessierenden epochenkritischen Inhalt scheint er sich mit niemandem ausgetauscht zu haben – weder in Gesprächen noch in Briefen. Vielleicht hätte nach Schillers Tod Alexander von Humboldt kompetenter Partner sein können.
Der Zugang zum Zweiten Teil ist möglicherweise gerade durch die Teile erschwert, mit denen Goethe es seinem Publikum leicht machen wollte: die karnevalesken und bilderstrotzenden – aber bildungslastigen – Szenen des Mummenschanzes und der Klassischen Walpurgisnacht. Wir entfernen daher die opulente Verpackung, um den Kern bloßzulegen, der in seiner Aktualität und schonungslosen Kritik an den Strukturen von Macht und Gewalt wohl erst heute in seiner überzeitlichen Bedeutung wahrgenommen werden kann.
EINE NEUE SICHT AUF GOETHES FAUST
ALS ANREGUNG FÜR EINE AKTUELLE DISKUSSION
Angeregt durch Neuveröffentlichungen der letzten Jahre, auch befördert durch ein Umdenken seit der Finanzkrise, erfährt ein historischer Theatertext, nämlich Goethes Faust - besonders mit seinem Zweiten Teil - eine überraschend neuartige Beachtung. Offensichtlich bietet er uns - mehr als jeder andere oder spätere literarische Text - die Möglichkeit, den hypothetischen Akteur der westlichen Entwicklungsdyamik als sprechend-handelnde Kunstfigur greifbar werden zu lassen.
Wie konnte gerade Goethe ein solcher Vorstoß in ansonsten unerschlossene gesellschaftlicher Vorgänge gelingen? In das damals wirtschaftlich rückständige und in Kleinstaaten zergliederte Deutschland kamen zwar bereits Nachrichten aus anderen Ländern über wissenschaftliche Forschungen und technische Erfindungen, die Aufsehen erregten, auch sogleich aufgegriffen und technisch umgesetzt wurden (etwa der Einsatz der Dampfmaschine zum Betrieb von Bergwerkspumpen), doch war es zur Zeit Goethes noch kaum erahnbar, dass die Dampfmaschine und andere Erfindungen eine industrielle Umwälzung einleiten würde, die die ganze Welt veränderte. Aber Goethe muß gespürt haben, daß eine völlig neue Epoche begann, und so war er von der Idee beseelt, diesen Bruch mit der Vergangenheit und das Aufkommen neuer, die Natur und die Gesellschaft revolutionierender Prozesse in Szenen seines Faustdramas zu gestalten.
Der Stoff der Faust-Legende, die ihm von Kindheit an bedeutend erschien, bot Goethe die Möglichkeit, Aspekte des Bedrohlichen, Gefährlichen und Zerstörerischen in seinem Protagonisten zu verkörpern, und zwar eindeutig in ihm selber: Die traditionelle Sichtweise hat eine Polarität zwischen Faust und Teufel behauptet, die dem Stück und Goethes Konzept nicht entspricht. Mephisto ist in beiden Teilen nichts weiter als der Agent, der Faust in dessen Zielsetzungen fördert und zur Umsetzung geniale Einfälle beisteuert und manchmal magische, manchmal kriminelle Mittel einsetzt.
Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist Faust auch kein Selbstbildnis Goethes. Allerdings hat er ihm persönliche Züge verliehen und läßt ihn Passagen sprechen, die durchaus persönliches Bekenntnis sind und zum Schönsten gehören, was er geschrieben hat.
Goethe konnte, im Blick auf die Geschichte und die politischen Verhältnisse seiner Zeit und bestärkt von seinen vielfach problematischen Erfahrungen als beamteter Berater des Herzogs von Weimar, einen fiktiven Kaiserstaat als Modell entwerfen, der vom Mittelalter bis in eine offene Zukunft reicht. Es trägt alle Züge eines kränkelnden Gemeinwesens, das von Unrecht, Gewalt und Bürgerkrieg erschüttert wird. Hier läßt er mit Mephistos Hilfe Faust als Finanzberater, General und schließlich als Kaufmann, Reeder, Hafenbauer und Kolonisator und vor allem als rücksichtslosen Egoisten auftreten.
Shakespeare ähnlich ist es Goethe gelungen, etwas ihm selbst Fremdes, Beunruhigendes und Abstoßendes zur Substanz einer Bühnengestalt werden zu lassender über Shakespeares Gestalten hinaus ist Faust zu einer Symbolgestalt der von Europa ausgehenden Entwicklung und Bedrohung geworden, die sich uns vielleicht erst heute in ihrer weitreichenden Bedeutung erschließt.
Wir beschäftigen uns besonders mit Faust II als Möglichkeit, die subjektive, die innere emotionale Dimension des unternehmerischen, machtbesessenen, rücksichtslosen Handelns des westlichen Akteurs wahrzunehmen - der mit seinem Unbefriedigtsein und seinem nicht zur Ruhekommen zum Global Player mit einer sich steigernden Beschleunigungstendenz geworden ist und damit auch zum Symbol zunehmender Umweltzerstörung.
ZUR KONSTRUKTION DES FAUST
Harald Meyer©Hamburg 2016
PROLOG IM HIMMEL
Im Prolog im Himmel macht Gott den Teufel (Mephisto) auf den Gelehrten Faust aufmerksam, den er als Wahrheitssuchenden schätzt und von dem er sicher ist, daß er auf dem rechten Wege ist. Mephisto ist sich ebenso sicher, dass Faust vom rechten Wege abbringen kann und schlägt Gott eine Wette darüber vor.
TRAGÖDIE ERSTER TEIL
In der Nacht vor Ostern hockt der alternde Doktor Heinrich Faust in seinem Studierzimmer und brütet über seinen Büchern. Indem er den Erdgeist heraufbeschwört, wird er sich seiner Nichtigkeit bewußt und kommt zu dem Schluß, daß all sein Bemühen vergeblich ist. Als er verzweifelt zu einem Fläschchen Gift greift, um der Qual ein Ende zu setzen, hört er, wie die nahen Kirchenglocken und der Chor die Auferstehung verkünden. Mit seinem Famulus Wagner macht er einen Spaziergang bis vor das Tor der Stadt und genießt den nahenden Frühling. Die Bürger begrüßen ihn mit viel Hochachtung. Er berichtet Wagner, daß schon sein Vater alchemistische Rezepturen verabreicht habe und auf nicht ganz ehrenhafte Weise zu Geld gekommen sei. Er selber könne auch gar nicht die Hilfe bieten, die man von ihm erwarte. Daher sei ihm die Bewunderung und Verehrung, die ihm die Menge entgegenbringe, wie früher schon seinem Vater, eher zweifelhaft.
Auf dem Wege streicht ein Pudel um die beiden herum, der sich bei Rückkehr ins Studierzimmer schleicht, wo Faust beginnt, das Johannesevangelium neu zu übersetzen. Da verwandelt sich der Pudel in die Teufelsgestalt des Mephistopheles, mit dem er seine Wette abschließt: Mephisto soll ihn in die Genüsse der Welt einführen, von denen er nicht glauben kann, daß ihn jemals irgendetwas wirklich befriedigen könnte. Sollte Mephisto ihm das Gegenteil beweisen, würde er ihm seine Seele überlassen. Und so geht er mit Mephisto auf Reisen.
Nach ihrem ersten Aufenthalt in Leipzig, wo sie in Auerbachs Keller die vulgären Vergnügen einer Studentengruppe miterlebt haben, sieht sich Faust durch einen in der Hexenküche gebrauten Zaubertrank in einen jungen Mann zurückverwandelt und begegnet dem jungen Mädchen Margarete. Er verliebt sich sogleich in sie, und mit Hilfe Mephistos gelingt es ihm, sie zu verführen. Als er vor ihrer Tür von ihrem Bruder überrascht wird, führt Mephisto ihm seinen Degen und er versetzt dem Jungen einen tödlichen Stoß. Nach dem Mord verlassen Faust und Mephisto die Stadt, ohne daß Faust weiß, daß Margaret schwanger ist. Sie erreichen den Harz und lassen sich auf das wüste Treiben der Ersten Walpurgisnacht ein, bis Faust von der Erscheinung der zum Tode verurteilten Erscheinung Margaretes angerührt wird. Betroffen von ihrem grauenhaften Schicksal, kehrt er mit Mephisto in die Stadt zurück, um die Geliebte zu befreien, die im Gefängnis auf ihre Hinrichtung wartet. Sie hat aber wegen seines unheimlichen Begleiters kein Vertrauen mehr in ihn und weigert sich, mit ihm zu kommen. Eine himmlische Stimme verkündet: Sie ist gerettet!
TRAGÖDIE ZWEITER TEIL
I. AKT
Im Zweiten Teil erwacht der vom Schicksal der Margarete erschütterte Faust in einer einsamen Landschaft aus einem tiefen Heilschlaf. Er kommt in der Morgendämmerung allmählich zu sich und wendet sich, von der aufgehenden Sonne geblendet, einem Wasserfall zu und begreift: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
In der kaiserlichen Pfalz erscheinen Faust und Mephisto am Thron des Kaisers, der wie seine hohen Würdenträger, der Kanzler, der Heermeister, der Schatzmeister und der Marschalk die finanzielle Not des Reiches beklagt. Die Ausgaben des Staates übersteigen die Einnahmen bei Weitem, letztlich fehlt es an allem. Mephisto bietet sich an, Geld zu beschaffen, indem er die im Boden vorhandenen Schätze zum Gegenwert für Papiergeld erklärt. Der in Aussicht gestellte Reichtum läßt den Kaiser alle Sorgen vergessen und er eröffnet unbeschwert die drei letzten Tage des Karnevals - bis zum Aschermittwoch.
Im wilden Treiben erscheint unter anderem Pluto, der Gott des Reichtums; es ist der Kaiser selbst, der in panischer Verzückung mit seinem Namen das Papiergeld unterzeichnet, das dann massenhaft in Druck gegeben, am Hof und im Volk sogleich in einem lustvollen Kaufrausch ausgegeben wird. Im daraus entstehenden Übermut werden am Hof Stimmen laut, die das mythologische Traumpaar, den hübschen Paris und die schöne Helena vorgeführt bekommen möchten, was Faust dem Kaiser leichtfertig verspricht. Mephisto sendet Faust auf einen magischen Weg in die Unterwelt, um die beiden heraufzubeschwören.
In einer Laterna-magica-Vorführung erscheinen Paris und Helena dermaßen lebensecht, daß Faust auf seine eigene Projektion hereinfällt und die imaginäre Helena für sich zu gewinnen sucht. Durch eine Explosion des Vorführgeräts wird Faust ohnmächtig. Mephisto schafft es, den betäubten Faust in sein früheres Studierzimmer zu schaffen.
II. AKT
Allerdings sind einige Jahre verstrichen - und sein früherer Famulus Wagner Famulus hat inzwischen die alchemistischen Experimente erfolgreich fortgesetzt und sich inzwischen zu einem modernen Forscher und Laborchemiker entwickelt: Ihm ist die Erzeugung eines künstlichen Menschen gelungen, einem Homunculus, der aber in einem Zustand der Unkörperlichkeit bleibt.
Der von einem Glaskolben geschützte Homunculus verfügt aber über Intelligenz und sogar Wissen, das ihm ermöglicht, den eloquenten Reiseführer für Faust und Mephisto zu spielen. Er entführt sie in eine Zweite Walpurgisnacht – und auf eine Zeitreise zurück in das antike Griechenland, wo sie vielen mythischen und historischen Gestalten begegnen. Homunculus bleibt im Vorzustand der Menschwerdung und zerschellt schließlich in einem hymnischen Fest das in die Apotheose des Eros mündet.
III. AKT
Mephisto wird zur grauenvollen weiblichen Gestalt der Phorkyas. In dieser Rolle empfängt er/sie Helena, die schönste Frau der Welt, um die der Krieg von Troja geführt worden war und die nach dem Untergang Trojas nach Sparta zurückkehrt, um in ihrem heimatlichen Palast auf ihren Ehemann Menelaos zu warten. Da ihr als Strafe für ihre Untreue der Tod droht, kann Mephisto/Phorkyas sie überzeugen, Sparta zu verlassen und ihm/ihr auf Fausts mittelalterliche Ritterburg zu folgen. Nun kann Faust endlich sein Idol als Geliebte empfangen. Das Paar verlebt eine Zeit des paradiesischen oder arkadischen Glücks mit ihrem Sohn Euphorion. Das Kind wird schnell zum Jüngling und Mann und erleidet, indem er sich zu einem Flug aufschwingt, einen Ikarus ähnelndem Tod. Damit kehrt auch Helena in ihr Schattenreich zurück.
IV. AKT
Auf der Rückreise aus Griechenland durch Italien wird Faust als Nekromant von Norcia der Zauberei angeklagt und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Aus Dankbarkeit wegen seiner scheinbaren Hilfe bei der Bewältigung der Finanznot des Staates rettet ihn Kaiser vor dem Feuer.
In Deutschland zurückgekehrt, faßt Faust völlig neuen Plan: Er möchte die Gewalt des Meeres brechen und durch Deichbau neues Land gewinnen. Ein sich anbahnender Krieg erweist sich als günstig für dies Vorhaben. Die nach die Erfindung des Papiergeldes gesteigerte Verschwendung-sucht des Kaisers hatte (in Parallele zur französischen Revolution) Empörung, Aufruhr und einen Bürgerkrieg ausgelöst. Ein Gegenkaiser steht ihm mit einer Armee gegenüber. Mephisto schlägt Faust vor, dem ihnen vertrauten Kaiser zum Sieg gegen den Gegenkaiser zu verhelfen, um zum Dank das in Aussicht stehende Land als Lehen zu fordern, um es als Eigentum zu seinem zukunftsweisenden Unternehmen zu nutzen.
Faust wird zum Obergeneral ernannt. Mit Hilfe der Drei Gewaltigen und unter Einsatz der magischen Künste Mephistos, die die Naturgewalten in Aufruhr versetzen, gelingt es den beiden, die feindliche Armee zu schlagen.
Nachdem der Kaiser wieder in seine früheren Rechte eingesetzt ist, verteilt er die Kriegsbeute an seine Getreuen. Er benennt vier Fürsten zu obersten Dienern des Kaiserhofs. Der Erzmarschall soll den Hof schützen und bewachen, der Erzkämmerer den Haushalt und die Dienerschaft verwalten, der Erztruchseß die Vorräte und die Speisezubereitung organisieren und der Erzschenk für den Wein sorgen.
Die Verträge für diese Ämter soll der Erzbischof machen. Er nutzt den Augenblick, den Besitz der Unterstützer des Gegenkaisers zu beschlagnahmen und den Parteigängern des alten Kaisers zuzuweisen. Mit dem Recht auf Steuern, Zinsen, Zoll und andere Einnahmen übergibt der Kaiser dem Erzbischof auch das Recht, seinen Nachfolger zu benennen.
Darüber hinaus fordert der Erzbischof als Sühne für die gemeinsame Sache mit Faust und seines verrufenen Begleiters, auf dem entweihten Grund eine Kirche zu errichten. Als letztes fordert er, auch von Faust für das in Aussicht gestellte Land Steuern und Zinsen zu erheben.
Der Erzbischof mahnt zur Buße wegen der Einbeziehung Fausts und fordert für die Kirche entsprechende Anteile und auch Steuern auf das von Faust in Zukunft zu erschließende Gelände.
V. AKT
Faust gelingt es, neues Land zu gewinnen und urbar zu machen, einen Hafen anzulegen, Schiffe auszustatten, Waren heranzuschaffen. Er ist also jetzt Kolonisator, Unternehmer, und Kaufmann in einer Person. Doch einer letzten Befriedigung steht das Anwesen eines alten Ehepaares, Philemon und Baucis, im Wege. Genau am Ort ihres Hauses und Gartens möchte er seinen Wohnsitz errichten. Und ihn stören die Kirchenglocken ihrer kleinen Kapelle.
Die Drei Gewaltigen erledigen ihren Auftrag, die alten Leute umzusiedeln mit solchem Ungestüm, daß Haus und Kapelle in Flammen aufgehen. Der Wanderer, den die beiden Alten aufgenommen und bewirtet hatten, kommt mit ihnen um, als er sie zu verteidigen sucht.
Faust, inzwischen von Sorge erfüllt und erblindet, weist seinen Aufseher ein letztes Mal an, die Schar der Arbeiter mit Drohung und Zwang zur Eile anzutreiben. Als er Grabegeräusche hört, ahnt er nicht, daß es sich um sein eigenes Grab handelt. Er sieht sich am Ziel seiner Bemühungen und hält sein Lebenswerk für vollendet. So könnte er sich jetzt zum ersten Mal etwas Ruhe gönnen, und zum Augenblick sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn. Und er schließt: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück, genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.
SCHLUSSAPOTHEOSE
Den krönenden Abschluß bildet aber eine Allegorie, die vergessen läßt, ob es sich bei der Tragödie um Geträumtes, Erträumtes oder real Erlebtes gehandelt hat: In einer unberührten Landschaft sind Stimmen zu hören, die sich zu Chören vereinigen und verkünden, daß alle Schuld auf Erden vergeben ist, wenn der Mensch nach Höherem strebt und sich vom Ewigweiblichen leiten läßt.
AKTUALITÄT DER TRAGÖDIE
Fausts ist in seiner Entwicklung durch beide Teile der Tragödie, unterbrochen von einer phantastischen Zeitreise ins antike Griechenland, in Goethes Gegenwart angekommen: Die Epoche von Wissenschaft und Technik hat begonnen, Landschaften werden umgestaltet, Verkehrswege erschlossen. Faust ist vom gelehrten Alchemisten zum finanzpolitischen und militärischen Berater geworden und repräsentiert schließlich den Typ des modernen Unternehmers.
Gleichsam vorgegeben durch den Osterspaziergang, gibt es in beiden Teilen des Faust mehrere Wechsel zwischen bürgerlichem und höfischem Leben und buntem menschlichem Treiben, zwischen der Einsamkeit des Studierzimmers und menschenleerer abgelegenen Landschaften: Wald und Höhle, Offenes Feld, Anmutige Gegend, Arkadien, Hochgebirg, wobei dann Auf dem Vorgebirg beide Seiten in kriegerischer Aktion aufeinander treffen.
Faust sieht sich einer untergründlichen Welt und einer Gesellschaft gegenüber, die nicht weiß, was sie will, und die von Kräften getrieben wird, die sie nicht begreift. Er hängt Idealen nach, die aus der antiken Mythologie, aus Philosophie und Literatur und der Bibel stammen und die sich verflüchtigen, sobald sie konkrete Gestalt geworden sind. Er empfindet in sich selbst die Unruhe und die Unzufriedenheit, das Getrieben-Sein und die Beziehungsunfähigkeit der Gesellschaft. Und bis zum Ende bleibt er in einem Zwiespalt: Er hat endlich eine positive Aufgabe gefunden und glaubt jedenfalls, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen, steht aber bei diesem Unternehmen unter dem Zwang, seinen persönlichen Egoismus gegen jeden Widerstand durchzusetzen.
Goethe ist in seiner bilderreichen Szenenfolge dieser Reise durch Zeiten und Räume offen im Erfassen von Phänomenen in ihrem Anfangsstadium: die sich beschleunigende technische Entwicklung, die sogar die Erschaffung des künstlichen Menschen denkbar werden läßt, die Entwicklung der Geldwirtschaft und das von ihr ausgelöste planlose Ausgaben- und Kaufverhalten, die rücksichtslose Durchsetzung von Eigeninteressen einer Minderheit gegen die Mehrheit der Menschen, die der Anbaumethoden und der Märkte auf dem Lande und die dadurch ausgelöste Vertreibung der Landbevölkerung, die Mißachtung gewachsener Kulturen sowie die zerstörerische Ausbeutung der Natur – das alles erscheint als sehr konkrete Vorahnung der aktuellen Situation, wie wir sie erleben.
Goethe scheint in dem überlieferten Paar Faust-Mephisto etwas seinem Wesen befremdlich Anderes und Feindliches gestaltet zu haben. Im Ersten Teil entwirft er Faust als gestörte Persönlichkeit, die von ihrer Unzufriedenheit getrieben, eine junge Frau und ihre Familie ins Unglück stürzt ist, im Zweiten Teil wird er zum gesellschaftlichen Akteur von zerstörerischer Dynamik, dem zur Durchsetzung seiner Interessen jedes Mittel recht ist und der die in Philemon und Baucis verkörperte Alte Welt untergehen läßt.
Wenn wir uns heute mit dem Faust-Text beschäftigen, tun wir es vor allem, weil wir dort auf allegorisch-modellhafte Szenen stoßen, die zu einer Erörterung unserer aktuellen Situation nutzbar gemacht werden können.