EINE NEUE SICHT AUF GOETHES FAUST

Dokument des Erschreckens des Dichters

über die Zukunft einer neuen Epoche

 

Von Jochen Hanisch

 

1         Die kapitalistische Epoche als Menschheitstragödie

Goethe lebte in einer Zeit großer Umbrüche. Ablösung des Feudalismus, fundamentaler Wandel in den Wissenschaften, neue Technologien. Ein Menschheitstraum scheint greifbar nahe: Die Natur für eigene Zwecke beherrschen zu können. Es bildet sich das heraus, was man wenige Jahrzehnte danach als „Kapitalismus“ bezeichnen wird.

Goethe war in Fragen der politischen Entwicklung konservativ, und am meisten verabscheute er gewaltförmige Umstürze (Revolutionen). Als anerkannter Dichter, Minister und Protegé des Fürsten in Weimar hatte er einiges an Privilegien und Einkommen zu verlieren. So einleuchtend diese Einschätzung auf den ersten und zweiten Blick erscheint, sie könnte ungerecht sein. Warum sollte ein großer Dichter nicht ratlos sein gegenüber einer Entwicklung, die sich ihm als aussichtslos darstellt. Wenn das „Neue“ als erster Schritt in eine Menschheitstragödie wahrgenommen wird, verwundert es nicht, wenn als Alternative der Status quo vorgezogen wird.

Den Wandel von der noch mittelalterlich geprägten absolutistischen Ständegesellschaft in eine neue durch den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital bestimmte bürgerliche Gesellschaftsformation hat Goethe wahrgenommen und in Umrissen in den Protagonisten seines Faust-Dramas gestaltet.

Folgt man Schlaffer und Jäger (vgl. (Schlaffer 1981a; Jäger 2015) gibt es eine auffällige Nähe zu bestimmten Einschätzungen, die von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben wurden. Darin wird die ungeheure Dynamik der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und die besondere Rolle der Bourgeoisie als der eigentlich revolutionären Klasse beschrieben:

„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (…) Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft (…). Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen“.

(aus: Marx, K., Engels, F., Das Kommunistische Manifest, Kapitel 3)

Das kommunistische Manifest endet mit einer Vision. Dass nämlich irgendwann die Produktivkräfte soweit entwickelt sein werden, dass eine Gesellschaft möglich wird, in der die Ausbeutung von Menschen durch Menschen überwunden werden kann. Nach einer Phase von Kämpfen zur Entmachtung der Bourgeoisie tritt

„an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen (…) eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist“. (ebda, Schlusssatz Kapitel 4).

 

Goethe war von düsteren Vorahnungen erfüllt. Er glaubt nicht an ein paradiesisches Ende der Geschichte in einer neuen, friedlichen (kommunistischen) Welt. Nur so wird begreiflich, warum Goethe am Schluss seines Werks die Seele seines Protagonisten Faust in einem angehängten Theatercoup durch vom Himmel herabsteigende Engel retten lässt.

Wie Recht Goethe mit seiner pessimistischen Einschätzung hatte, zeigte sich mit aktuellen Erfahrungen, die das neue Wirtschaftssystem mit sich brachte.

Der Zusammenbruch des „Reichs des Bösen“ (Reagan über die UdSSR und den Warschauer Pakt) hat nicht etwa Frieden, Demokratie und Prosperität gebracht (wie uns immer als Ziel der westlichen Politik vorgegaukelt wurde), sondern vielmehr Destabilisierung und Rückkehr der nationalen Politiken zur Kriegsoption. Heute beklagen wir einen für unmöglich gehaltenen Rückfall in rechtsnationale und faschistische Bewegungen, wie er mehr oder weniger global zu beobachten ist, der das zu zerstören droht, was nach dem Selbstmordprogramm imperialistischer Konkurrenzkriege als einziger Ausweg Erfolg versprach, nämlich europäische Einigung, friedlicher Ausgleich zwischen den Völkern zum gegenseitigen Nutzen, Verwirklichung der Grundrechte und Übergang zur Nachhaltigkeit.

Es brauchte lange, die Weltuntergangsstimmung, der Goethe am Ende seines Lebens verfiel, zu dechiffrieren. Die Publikation von Michael Jäger (a.a.O.) hat uns diese Perspektive eröffnet. Dies ist auch der Grund für die Faszination, die Goethes Faust in den letzten Jahren ausgelöst hat. Dass da ein Autor in einer grandiosen allegorischen Dichtung viele bis heute aktuelle Themen gestaltet und doch am Ende vor den Perspektiven der neuen Welt ratlos bleibt. Indem er sein großes Werk vor seinem Publikum verschließt und es allenfalls der posthumen Veröffentlichung überlässt, erscheint er gar nicht titanisch, sondern zutiefst menschlich.

Vor einigen Monaten hatte ich einen Streit mit einer deutschen Gymnasiallehrerin. Sie forderte, die Moslems sollten eine Aufklärungsepoche durchlaufen, wie wir sie gehabt hätten. Wie sollten sie sonst je aus ihrer Isolation aus religiösem Fanatismus, Intoleranz und Rückständigkeit herauskommen?

Ich fragte sie, an was für eine Art Aufklärung sie denke? Zu was habe denn „unsere“ Aufklärung geführt? Da doch unsere aufgeklärten Väter und Mütter vor 70 Jahren erst zugelassen oder sogar unterstützt haben, dass die Juden zuerst für alles Elend der industrialisierten Welt verantwortlich gemacht, in einem wahnsinnigen Furor verfolgt, aus dem gesamten besetzten Europa per Deutscher Reichsbahn in die Vernichtungslager transportiert und dann liquidiert  wurden. Dass sie es zugelassen oder sogar unterstützt haben, dass das Deutsche Reich einen Weltkrieg vom Zaune brach und mit seinem Unternehmen Barbarossa sich anschickte, die slawischen Untermenschen zwischen Polen und dem Ural in die Steinzeit zurück zu bomben.  Die Juden- und Slawenvernichtung kostete rund 33 Millionen Menschen das Leben. Wenn die europäische Aufklärung eine solche Radikalisierung und Brutalisierung der Menschen ermöglicht (jedenfalls nicht verhindert) habe, was solle man von einer solche Aufklärung bei den Moslems erwarten?

Dass sie werden wie wir? Wäre das wirklich besser für die Menschheit?! Der Streit wurde beendet ohne das Thema zu Ende diskutiert zu haben.

Auf die viel näher liegende Idee bin ich damals nicht gekommen: Wenn wir es nicht schaffen, eine weitere Aufklärung über die inneren Zusammenhänge der verschiedenen aktuellen Krisen in Gang zu setzen – bei uns! -, dann haben wir wenig Chancen, den Katastrophenzug aufzuhalten, der schon eine gefährlich schnelle Geschwindigkeit aufgenommen hat.

Die Beschäftigung mit den Hintergründen der Fausttragödie als Dokument aus der Frühphase der kapitalistischen Epoche soll den lebensnotwendig aufklärerischen Blick für die realen Verhältnisse schärfen.

Sie soll zeigen, dass das goethesche Welt- und Menschenbild erst heute, am (gefühlten) Ende dieser Epoche, in seiner Bedeutung und seinem Wahrheitsgehalt so richtig erkannt werden kann.

 


 

2         Das Faust-Umwelt-Projekt des VaN

2.1          Vorgeschichte und Einordnung des Faust in unseren Diskussionskontext

Als vor einigen Jahren das Thalia-Theater die Fausttragödie (Teil I und II) als Gesamtaufführung auf die Bühne brachte, wurde mir klar, warum uns Ende der 60er Jahre der Faust II in der Schule erspart blieb. Er sei unlesbar, verkündete der Lehrer. Vermutlich hatte ein Provinzpauker selbst nur begrenzten Ein- und Durchblick in die faustische Welt des Johann Wolfgang Goethe, der sich über 50 Jahre mit dem Faust-Stoff befasst hatte und einen Theatertext schuf, der weit über die ursprüngliche  Geschichte von Liebe, Drama und Wahnsinn hinauswies und in vieler Hinsicht rätselhaft schien.

Beschrieben wird die Entwicklung des Wissenschaftlers Dr. Faust, der trotz aller Studien immer weniger weiß, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, der schließlich zu einem rücksichtslosen Großunternehmer mit umfassendem Macht- und Herrschaftswillen wird und der Millionen „freier Bürger“ Wohnung, Arbeit und Wohlergehen zu verschaffen verspricht. Ein Leben, „stets umrungen von Gefahr(en)“, die aus der Art und Weise folgen, wie diese Wohltaten geschaffen wurden.

Der geniale Dichter, weltgewandt, vertraut mit Texten aus allen historischen Kulturepochen, naturwissenschaftlich hoch interessiert, in permanenter Auseinandersetzung mit den verschiedensten Geistesgrößen seiner Zeit, selbst als Minister in den Diensten des Weimarer Hofes (Finanz- und Infrastrukturminister) und als Theaterdirektor und Regisseur mit allen Wassern des Musik- und Sprechtheaters gewaschen, hat mit dem Faust einen Text hinterlassen, der Generationen von Interpreten beschäftigt und bis heute an seiner Aktualität nichts eingebüßt hat.

Das im 18. Jahrhundert entwickelte Prinzip der klaren Sprache nach Ursache und Wirkung (Spinoza, Rousseau usw.) erschien als gefährlich, so kann man vermuten, weil mit der allgemeinen Aufklärung über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung die Betroffenen zu „revolutionären“ Schlussfolgerungen kommen könnten. Der weltberühmte Satz über das in Europa umgehenden Gespenst namens Kommunismus verweist auf die Angst vor solcherart Aufklärung. Dass Goethe die Widersprüche gesehen und sich daran abgearbeitet hat, wird spätestens in der fulminanten geldpolitischen Passage im ersten Akt des zweiten Teils deutlich, als Faust und Mephisto dem Kaiser die spekulative Funktion des Papiergeldes erklären.

Schlaffer zeigt an einem Briefwechsel mit Schiller, dass Goethe nicht begreifen wollte, dass eine von einer napoleonischen Bombe zerstörte Poststation samt Restaurationsbetrieb nach dem Verlust ihres Gebrauchswertes wertvoller sein konnte als vor ihrer Zerstörung. Er weigerte sich anzuerkennen, dass der Wert eines Grundstückes und eines Gebäudes über den aktuellen Gebrauchswert hinaus auch von seiner Lage und den künftigen potentiellen Grundstücksnutzungen bestimmt wird. Die Immobilie als gesellschaftliche Wertkategorie konnte oder wollte Goethe seinem naturphilosophischen Denken nicht zumuten. Darin liegt auch eine Weigerung, die gesellschaftlichen Veränderungen zu akzeptieren (vgl. (Schlaffer 1981 a.a.O.). Folgt man den Ausführungen von Schlaffer, liest sich der Faust geradezu als Kommentar zum Kommunistischen Manifest (Marx und Engels 2012). Die Visionen der Frühsozialisten (Saint-Simonisten) und wenige Jahre danach von Marx und Engels entstanden durch die großen wissenschaftlich-technologischen Fortschritte (Produktivkraftentwicklung) und den grundsätzlichen Wandel im philosophischen Mensch-Natur-Verhältnis (vgl. Gloy 1995).

Die damit einhergehende umfassende Beschleunigung aller dieser Prozesse bezeichnete Goethe als „veloziferisch“, was von einigen Interpreten auch als Wortkombination von Geschwindigkeit und Teufel gelesen wurde. Die ständige Eile, das Vorwärtsstürmen nach immer neuen und immer größeren Zielen würde diese Zeit prägen und alle Formen der individuellen Persönlichkeitsentfaltung unter sich begraben. So empfand Goethe die anbrechende neue Epoche als große Bedrohung.

Dies alles kann in der umfassenden Darstellung von Michael Jäger „Über des Wanderers Verstummen“ nachgelesen werden. Diese Debatte eignet sich nicht für antikommunistische Ideologien sondern viel mehr für eine Diskussion über gesellschaftliche Alternativen (vgl. Jäger 2015). Darauf werden wir zu einem späteren Zeitpunkt genauer eingehen, um den Rahmen dieser Einführung nicht zu sprengen.

Wir erleben gegenwärtig eine Phase, die unruhig, gefährlich und hinsichtlich ihrer weiteren Zukunft unklar verläuft. Alle Gewissheiten des 19. Und 20. Jahrhunderts gelten nicht mehr.

Unser großes Projekt, die Wirkungsgeschichte des Fausttextes näher zu betrachten, gründet sich aus der Einsicht, dass wir nichts dringender benötigen als eine neue Aufklärung. Denn der Fausttext enthält Geschichten, die, auf unsere Gegenwart und den möglichen Epochenwandel angewandt, interessante Einsichten und Diskussionen verspricht.

3         Die Faust-Edition des VaN

Im Faust-Text sind mehrere Geschichten enthalten (Gretchen-Tragödie, Helena, Homunculus, Landerschließung, Gewalt, Finanzkrise, Virtuelles Geld, Wissenschaft u.a.). Nicht alle Teile fügen sich in durchgängige Erzählungen. Sie finden sich oft durchbrochen von langen Exkursen über ganz andere Themen (siehe Einführung von Harald Meyer). Diese langen Episoden über die Walpurgisnacht, die Klassische Walpurgisnacht und die Helena-Episode entstanden zur Unterhaltung des Publikums – heute können wir ohne genauere Hintergrundkenntnisse diese Texte nicht ohne weiteres verstehen. Deshalb kam die Idee auf, eine Faust-Edition zu erstellen, in der die einzelnen Erzählstränge als mit einzelnen Titeln versehene Kapitel dargestellt werden (Details siehe Kapitel…./Harald Meyer).

Diese Textvorlage soll dazu dienen, die einzelnen Veranstaltungen vorzubereiten und es dem Publikum erleichtern, die Grundlagen unserer Veranstaltungen besser nachvollziehen zu können.

Die einzelnen Veranstaltungen werden dokumentiert und, je nachdem, als Ergänzungsschriften zum „Lesebuch“ veröffentlicht.

4         Veranstaltungen zum Thema Faust und die Umwelt

Die Entdeckung des Faust-Textes als historisch bedeutender Hintergrund zum Verständnis der Entwicklung von Mensch, Gesellschaft und Natur in den letzten 250 Jahren wurde zu unserem Ausgangspunkt, thematische Veranstaltungen vorzubereiten und öffentlich anzubieten.

Darin greifen wir Themen mit überraschend aktuellem Bezug zu unserer Realität im 21. Jahrhundert auf:

§  Die Landgewinnung durch Zurückdrängung des Wassers mit Deichen oder durch großflächige Entwässerungsmaßnahmen (Flussbegradigungen, und -vertiefungen, Entwässerungsprojekte) z.B.: Hamburger Hafen und Unterelbe, die Rheinkorrektion durch Tulla und die Industrialisierung und Besiedlung des Oberrheingrabens

§  Der Einsatz von ungedecktem Papiergeld zur Lösung einer Staatsschuldenkrise und einer tiefgreifenden Deflation (Weltfinanzkrise seit 2008 mit virtueller Geldschöpfung durch Notenbanken)

§  Repräsentationsprojekte über den eigenen Erfolg und der damit verbundenen Macht (Luginsland und Philemon und Baucis)

§  Technologieentwicklung im Zusammenhang mit Kriegen

§  Utopische Wissenschaftsentwicklungen (Künstliches Leben – Homunculus)

In mehreren Veranstaltungen haben wir Gegenwartskonflikte mit Faust-Texten kommentiert und darüber diskutiert (2012/13 und 2016):

·         Elbevertiefung (Landschaftsumbau, Kolonisation),

·         Geld- und Finanzkrise (Virtuelles Geld) und

·         Elbphilharmonie (Macht- und Erfolgsdemonstration).

Diese Veranstaltungen setzen sich aus mehreren Komponenten zusammen:

1.       Fachvortrag aus aktueller Sicht und Verknüpfung mit dem Goethetext

2.       Rezitation von Originaltexten durch Schauspieler

3.       Musikbegleitung (zur Umrahmung und als Unterstützung zum „Querdenekn“)

4.       Nachfragen und Diskussion.

In allen Veranstaltungen gab es angeregte Diskussionen – das Publikum kam aus Neugier, um zu erfahren, was Goethe denn mit der Elbevertiefung zu haben könnte und wurde überrascht durch den Ansatz, unsere Gegenwartskonflikte aus der Perspektive des beginnenden 19. Jahrhunderts zu betrachten.

Geplant ist die Erweiterung des Settings durch die Kooperation mit einer professionellen Theatergruppe aus Süddeutschland, die darauf spezialisiert ist, Theater mit dem Publikum zu spielen und zu entwickeln.

5         Vorbereitung Faust-Veranstaltung zur Eröffnung der Elbphilharmonie im Januar 2017

In der globalen Standortkonkurrenz gleichen sich die Bedingungen für anlagesuchendes Kapital immer mehr an. Industrieanlagen des 19. Jahrhunderts wurden z.B. noch auf „lange Haltbarkeit“ gebaut. Nicht selten auch mit dazugehörigen Arbeitersiedlungen (Siemensstadt in Berlin, Krupp-Siedlung in Essen usw.).

Im Zuge der beschleunigten globalen Arbeitsteilung (Goethe bezeichnete diese Beschleunigung als „veloziferisch“) werden Produktionsstätten getrennt von den Entwicklungs- und Verwaltungsabteilungen errichtet. Und zwar an Orten mit den jeweils niedrigsten Kosten. Das Internet, extrem günstige Frachtraten im Schiffsverkehr und globale Just-in-time-Logistiksysteme verstärken die globale räumliche Arbeitsteilung überhaupt erst möglich.

Eine Ausnahme bilden kleinere und/oder spezialisierte Betriebe, die sich solche Auslagerungen nicht leisten können und/oder sich von solchen Strategien keine Vorteile versprechen. Etwas anders gelagert ist es in großen internationalen Betrieben, wie z.B. Airbus in Hamburg oder Novartis in Basel, die auf weltweit enge Kontakte zu Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen sowie auf eine breite qualifizierte Arbeiterschaft angewiesen sind. Für das dafür notwendige Personal, gut ausgebildet, kreativ, leistungsbereit und mit hohen Einkommen, müssen Angebote gemacht werden, die über die Bereitstellung eines reinen Arbeitsplatzes hinausgehen. Hier entstehen Cluster aus Dienstleistungen, Wirtschafts-, Natur-, Technik- und Informatikwissenschaften, die als Push-Faktoren für die moderne Industrie zur Verfügung stehen müssen.

Das Novartis-Campus-Zentrum in Basel bietet optimale Bedingungen für eine Corporate-Iden­tity. Modernste und künstlerisch ambitionierte Hochbau- und Gartenarchitektur, aufwändige Kunstinstallationen und modernste technische Infrastruktur samt Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten auf dem Campus sorgen für eine Atmosphäre, die den Besucher schnell vergessen lässt, dass er sich auf einem Firmengelände befindet. Im Dreiländereck (Schweiz, Deutschland, Frankreich) arbeitet die Stadt Basel erfolgreich an dem Status einer modernen Kulturmetropole. In Hamburg-Finkenwerder entsteht ein Firmen- und Freizeit-Cluster, das, wenn schon nicht dem Baseler Vorbild gleichwertig, aber doch in die gleiche Richtung weist.

Nach wie vor gibt es aber Defizite in der global-öffentlichen Wahrnehmung des Standortes Hamburg. Die Stadt, einst als „schlafende Schöne“ bezeichnet (Helmut Schmidt), wird noch am ehesten als Hafenstadt mit einer wenig kultur- und wissenschaftsaffinen Kaufmannschaft assoziiert. Lange galten Wissenschafts- und Kulturinvestitionen als überflüssig und wurden privaten Sponsoren überlassen (Gründung der Universität Hamburg erst im 20. Jahrhundert auf Initiative eines privaten Unternehmers).

Die Lokalpolitik pendelt zwischen einer strukturkonservativen Hafenpolitik, die an dem Grundverständnis einer Handelsstadt um jeden Preis festhalten will, und einer Neuausrichtung als Wissenschafts-, Technologie- und Kulturstadt, in der der Hafen wirtschaftlich weniger wichtig wird und immer mehr als schifffahrtsromantische Kulisse und für den boomenden Kreuzfahrtbetrieb benutzt wird.

Daneben wird die Kultur zu einem strategischen Mittel der Standortentwicklung. Als Theaterstadt hat Hamburg ein weit über die Grenzen hinausstrahlendes Profil. Das aber nicht ausreicht, um den Ruf der Stadt als attraktive Touristendestination zu steigern und auch nicht, um die umbuhlten international konkurrenzfähigen Arbeitskräfte in großem Stil anzulocken. Erst mit den Musicals, die sich erfolgreich in Hamburg etablieren konnten, wurde Hamburg zu einem touristischen Markenzeichen mit hoher Attraktivität. Der Musical-Tourismus wird zudem eingebettet in die Eventkultur durch das Hamburger Stadtmarketing (Hafengeburtstag, Alstervergnügen usw.).

Anfang der 90er Jahre wurde das spöttisch karikiert mit dem Ausdruck „Ein Standort wird durch Cats erst schön“ (Volkmann 1993).

Musicals in Verbindung mit der sich immer weiter ausbreitenden Event-Kultur (Hafengeburtstag etc.) decken aber nur den Massenaspekt ab und zielen an den kulturellen Interessen der geistigen Eliten der modernen Wertschöpfungsketten vorbei.

Die Anpassung der Stadt an die neue Standortpolitik vollzieht sich also in dem dynamischen Prozess der Umwandlung einer traditionellen Industrie- und Kaufmannsstadt in eine moderne Dienstleistungsökonomie unter anderem auf Kosten der traditionellen Flächennutzungen im Hafengebiet. Die HafenCity, der Sprung über die Elbe auf die Elbinsel Wilhelmsburg und den Harburger Binnenhafen mit IBA und IGS stehen für diese Transformation.

Mit der Diskussion um die angemessene bauliche Nutzung des Kaiserhöft mit dem vormals denkmalverdächtigen Kaispeicher A an der westlichsten Spitze der Speicherstadt in Verbindung mit dem großen Projekt der Teilumwandlung des Hafengebiets in die City-Erweiterung „HafenCity“ hatte sich eine „energetisch hochaufgeladene Atmosphäre“ entwickelt, die sich schlagartig entlud, als der Architektenentwurf von Herzog/de Meuron/Partner mit einem geschickten Schachzug veröffentlicht wurde. Der Entwurf für den Um- und Ausbau des Speichers zur Elbphilharmonie reichte aus, um eine Art psychedelischen Rauschzustand für das Projekt zu entfachen. Ein Rausch, der heftig genug war, alle Bedenken wegen des überstürzten Planungs- und Entscheidungsverfahrens beiseite zu schieben mit der Folge schwerer und kostenträchtiger Planungs- und Steuerungsfehler.

Die Entscheidungsträger befanden sich in der Situation, die der des Dr. Faust gar nicht unähnlich war. Würden sie jetzt die Gunst der Stunde nicht nutzen, wäre das Projekt möglicherweise so nie zustande gekommen.

Jetzt, ein halbes Jahr vor der geplanten Eröffnung der Elbphilharmonie, wird alles getan, um die Bevölkerung in einen Rausch der Begeisterung zu versetzen angesichts der in Aussicht gestellten kulturellen Weltgeltung Hamburgs. Die Preissteigerung von knapp 1000% während eines Bauprozesses aus Pleiten, Pech und Pannen sowie Konflikte sollen vergessen gemacht werden, denn bezahlt wird die Rechnung von einer Bevölkerung, die sich in ihrer Mehrheit die späteren Eintrittspreise nicht wird leisten können und auch nicht wollen, denn was haben sie in den Hallen der Hochkultur verloren?

Die Elbphilharmonie steht hier symbolisch für das Scheitern des Kulturprojekts angesichts einer veloziferischen Ökonomie, die alles für ihre Zwecke vereinnahmt und die Elphi nur braucht - und auch deshalb dafür gesorgt hat, dass sie gebaut wird - um mit weiteren neuen, noch größeren, noch gewagteren Projekten voranzukommen (z.B. Science Center in der HafenCity).

 

6           Literaturverzeichnis

Gloy, Karen (1995): Das Verständnis der Natur (I) - Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München: Beck'sche Verlagsbuchhandlung.

Jäger, Michael (2015): Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie oder: die große Transformation der Welt. 2. Aufl. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Marx, Karl; Engels, Friedrich (2012): Manifest der Kommunistischen Partei. Köln: Anaconda.

Schlaffer, Heinz (1981b): Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler.

Volkmann, Rainer (1993): Ein Standort wird durch Cats erst schön. Regionalpolitik für die Großstadt : das Beispiel Hamburg. Hamburg: VSA-Verlag.

 

 

  

ANREGUNGEN FÜR EINE AKTUELLE DISKUSSION

 

Von Harald Meyer

 

Angeregt durch Neuveröffentlichungen der letzten Jahre, auch befördert durch ein Umdenken seit der Finanzkrise, erfährt ein historischer Theatertext, nämlich Goethes Faust - besonders mit seinem Zweiten Teil - eine überraschend neuartige Beachtung. Offensichtlich bietet er uns - mehr als jeder andere oder spätere literarische Text - die Möglichkeit, den hypothetischen Akteur der westlichen Entwicklungsdyamik als sprechend-handelnde Kunstfigur greifbar werden zu lassen.

 

Wie konnte gerade Goethe ein solcher Vorstoß in ansonsten unerschlossene gesellschaftlicher Vorgänge gelingen? In das damals wirtschaftlich rückständige und in Kleinstaaten zergliederte Deutschland kamen zwar bereits Nachrichten aus anderen Ländern über wissenschaftliche Forschungen und technische Erfindungen, die Aufsehen erregten, auch sogleich aufgegriffen und technisch umgesetzt wurden (etwa der Einsatz der Dampfmaschine zum Betrieb von Bergwerkspumpen), doch war es zur Zeit Goethes noch kaum erahnbar, dass die Dampfmaschine und andere Erfindungen eine industrielle Umwälzung einleiten würde, die die ganze Welt veränderte. Aber Goethe muß gespürt haben, daß eine völlig neue Epoche begann, und so war er von der Idee beseelt, diesen Bruch mit der Vergangenheit und das Aufkommen neuer, die Natur und die Gesellschaft revolutionierender Prozesse in Szenen seines Faustdramas zu gestalten.

 

Der Stoff der Faust-Legende, die ihm von Kindheit an bedeutend erschien, bot Goethe die Möglichkeit, Aspekte des Bedrohlichen, Gefährlichen und Zerstörerischen in seinem Protagonisten zu verkörpern, und zwar eindeutig in ihm selber: Die traditionelle Sichtweise hat eine Polarität zwischen Faust und Teufel behauptet, die dem Stück und Goethes Konzept nicht entspricht. Mephisto ist in beiden Teilen nichts weiter als der Agent, der Faust in dessen Zielsetzungen fördert und zur Umsetzung geniale Einfälle beisteuert und manchmal magische, manchmal kriminelle Mittel einsetzt.

 

Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist Faust auch kein Selbstbildnis Goethes. Allerdings hat er ihm persönliche Züge verliehen und läßt ihn Passagen sprechen, die durchaus persönliches Bekenntnis sind und zum Schönsten gehören, was er geschrieben hat.

 

Goethe konnte, im Blick auf die Geschichte und die politischen Verhältnisse seiner Zeit und bestärkt von seinen vielfach problematischen Erfahrungen als beamteter Berater des Herzogs von Weimar, einen fiktiven Kaiserstaat als Modell entwerfen, der vom Mittelalter bis in eine offene Zukunft reicht. Es trägt alle Züge eines kränkelnden Gemeinwesens, das von Unrecht, Gewalt und Bürgerkrieg erschüttert wird. Hier läßt er mit Mephistos Hilfe Faust als Finanzberater und Unterhalter, dann als General und schließlich als Kaufmann, Reeder, Hafenbauer und Kolonisator und vor allem als rücksichtslosen Egoisten auftreten.

 

Shakespeare ähnlich ist es Goethe gelungen, etwas ihm selbst Fremdes, Beunruhigendes und Abstoßendes zur Substanz einer Bühnengestalt werden zu lassen Über Shakespeares Gestalten hinaus ist Faust zu einer Symbolgestalt der von Europa ausgehenden Entwicklung und Bedrohung geworden, die sich uns wohl erst heute in ihrer weitreichenden Bedeutung erschließt.

 

Wir beschäftigen uns besonders mit Faust II als Möglichkeit, die subjektive, die innere emotionale Dimension des unternehmerischen, machtbesessenen, rücksichtslosen Handelns des westlichen Akteurs wahrzunehmen - der mit seinem Unbefriedigtsein und seinem nicht zur Ruhekommen zum Global Player mit einer sich steigernden Beschleunigungstendenz geworden ist und damit auch zum Symbol zunehmender Umweltzerstörung.

 

 

  

LESEBUCH FÜR EINEN LEICHTEREN ZUGANG ZU GOETHES FAUST

 

Auf mehreren Veranstaltungen des Vereins für angewandte Nachhaltigkeit VaN e.V. wurde der Versuch unternommen, die heutige Umweltproblematik mit Hilfe entsprechender Szenen aus Goethes Faust zu veranschaulichen. Goethe hat den historischen Umbruch zur Industrialisierung und die Tendenz zur Beschleunigung gespürt und zu gestalten versucht, indem er seine Protagonisten Faust und Mephisto als kreative Akteure in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Geld, Unterhaltung, Gewalt und Kolonisation auftreten ließ.

 

Um die Auseinandersetzung mit Goethes Text zu vertiefen, möchten wir den Teilnehmern unserer Veranstaltungen und anderen Lesern eine leicht zugängliche Kurzfassung des umfangreichen und schwer überschaubaren Gesamttextes von Faust I/II anbieten. Unsere Absicht war, die für Fausts Selbstdarstellung und die für die Umweltproblematik wesentlichen Passagen zu erfassen. Wir haben den Ersten Teil auf Abschnitte aus den Monologen des Faust reduziert, um die Entwicklung seiner Selbstzerstörung zeigen zu können. Dem ersten Teil lassen wir im Sinne der Handlungslogik unmittelbar Fausts Studierzimmer und das Laboratorium des zweiten Teiles folgen. Wir haben also den 2. Akt dem 1. Akt mit der Erfindung des Papiergelds vorangestellt. Der Zugang zum Zweiten Teil ist möglicherweise gerade durch die Szenen erschwert, mit denen Goethe es seinem Publikum leicht machen wollte: die karnevalesken und bilderstrotzenden-bildungslastigen Szenen des Mummenschanzes und der Klassischen Walpurgisnacht. Wir haben daher die entsprechenden Szenen des 1. und 2. Akts unberücksichtigt gelassen, ebenso den gesamten 3. Akt mit dem Helena-Zwischenspiel. Den 4. Akt mit dem Krieg um den Machterhalt des Kaisers sowie den 5. Akt mit Fausts Kolonisationsprojekt und der Grablegung  haben wir (ohne die Schlußszene) vollständig in unsere Ausgabe aufgenommen.

 

Wir entfernen also die opulente Verpackung, um den Kern bloßzulegen, der in seiner Aktualität und schonungslosen Kritik an den Strukturen von Wissenschaft, Macht und Gewalt wohl erst heute in seiner überzeitlichen Bedeutung wahrgenommen werden kann.

 

Zur besseren Orientierung haben wir die Auswahl nach Themen gegliedert und mit entsprechenden Titelangaben versehen.

 

Den Abschnitten des Ersten Teils geben wir den Titel:

STUDIUM, MAGIE UND PAKT MIT DEM TEUFEL

 

Die Abschnitte aus dem Zweiten Teil bekommen die Titel:

ALCHEMIE UND EXPERIMENT (2. Akt - Verse 6564-7002)

GELD UND VERSCHWENDUNG (1. Akt - Verse 4726-5063 und 5985-6563)

KRIEG, GEWALT UND KOLONISATION (4. Akt, 5. Akt - Verse 11040-11590)

 

Anmerkung:

Goethe hat den 1808 veröffentlichten Ersten Teil des Faust weder selber inszeniert noch aufgeführt erlebt, am Zweiten Teil hat er – mit langen Unterbrechungen - über 40 Jahre gearbeitet und ihn der Nachwelt versiegelt überlassen, ohne ihn für eine Druckausgabe oder eine Aufführung vorzubereiten. Über den uns vor allem interessierenden epochenkritischen Inhalt scheint er sich mit niemandem ausgetauscht zu haben – weder in Gesprächen noch in Briefen. Vielleicht hätte nach Schillers Tod Alexander von Humboldt kompetenter Partner sein können.

 

  

Zeilenanfänge und Strophen

 

Wir haben die Rechtschreibung und Interpunktion der früheren Faust-Ausgaben teilweise beibehalten, weil wir finden, daß Goethes Text keiner Anpassung an die neue Rechtschreibung bedarf. Der leichteren Lesbarkeit wegen haben wir aber die traditionelle Großschreibung der Versanfänge beseitigt.

 

Außerdem haben wir den Text in viel mehr Strophen aufgeteilt als in traditionellen Theatertexten üblich. So wird schon auf einen Blick sichtbar, wie regelmäßig der Text gebaut ist: Überwiegend handelt sich um Strophen mit vier gleichartigen Versen. Der Text wird in dieser Gestaltung leichter überschaubar und lesbar.

 

Vers und Rhythmus

 

Bei unseren Sprechproben vor unseren Veranstaltungen ist uns bewußt geworden, wie wichtig der Rhythmus der Verse für das Verständnis von Textdetails ist, sowohl bei der eigenen Lektüre wie für den Hörer.

 

Zwei Elemente scheinen uns dabei wichtig zu sein:

 

1. Verse bestehen fast immer aus zwei Halbversen:

Sie werden also nicht einer einzigen sondern in zwei Wellen gesprochen werden und bekommen dadurch etwas leicht Schwebendes. Wenn wir das berücksichtigen, erreichen wir Sprechweise von Versen, die sich von Prosa abhebt, aber doch natürlich wirkt.

 

2. Jeder Halbvers hat einen Anfangsimpuls:

Man muß herausfinden, ob dieser Impuls auf der ersten oder zweiten Silbe jedes Halbverses liegt.