File: B Facundus 253v.jpg - Gemeinfrei

Miniatur aus dem Facundus-Beatus für König Ferdinand I von Kastilien und Leon und Königin Sancha, Madrid, Biblioteca Nacional: 

Der Engel vermisst das Neue Jerusalem mit einem Stab oder Schilfrohr.

Außerdem zu erkennen: das Lamm Gottes und je ein Satz von zwölf Figuren, Toren und Steinen.

 

VON JESHUA ÜBER PAULUS ZU CHRISTUS

I

Am Anfang der Geschichte des Christentums steht die Umwandlung der Botschaft ihres Urhebers in den Glauben an ihn.

Das Leben des jüdischen Wanderpredigers Jeshua aus Nazaret in Galiläa, dem nördlichen Palästina, gelangte an die Nachwelt durch mündliche Überlieferung seiner Anhänger und wurde später in verschiedenen Versionen schriftlich festgehalten. Vier der Versionen wurden für verbindlich erklärt und im 5. Jahrhundert in den Schriftenkanon der Kirche aufgenommen. Die Darstellungen des 2- oder 3-jährigen öffentlichen Auftretens Jeshuas bis zu seiner Verurteilung und Hinrichtung wurden auf das Ende des ersten Jahrhunderts datiert und später Evangelium oder Gute Botschaft genannt.

Im Jahre 70 wurde bei der Niederschlagung jüdischer Aufstände der Tempel in Jerusalem durch die Römer zerstört; für die nächsten Jahrzehnte war den Juden das Betreten ihrer bedeutendsten Stadt verboten. Mit dem Ende des jüdischen Staates verloren die in die Mittelmeerländer ausgewanderten jüdischen Gruppen die Verbindung mit ihrer Heimat.

Jeshuas Muttersprache war aramäisch, die Verfasser der Berichte sprachen griechisch. Sein Name wandelte sich von Jeshua über Iesos zu Jesus. Bei der Übersetzung von Vorgängen aus dem jüdischen Alltagsleben in die hellenistische Welt gerieten mit der Sprache die jüdische Kultur und Religion in den Hintergrund. Die Autoren waren auch vom Wirken des Paulus (Sha‘ul) aus Tarsos beeinflußt, der durch seine Missionstätigkeit die Gründung von Gemeinden und ihrer organisatorischen und geistigen Ausrichtung vorantrieb.

Paulus war auffällig wenig an Persönlichkeit, Leben und Wirken des Juden Jeshua interessiert. Auf dessen Geburt, Taufe und Kindheit, auf seine Wanderungen und Begegnungen, auf seine Reden und Aussprüche, auf die Gleichnisse und die Bergpredigt und damit auf die Lehre des alltäglichen Handelns, die der Inhalt der vier Berichte ist, fehlt den an die neuen Gemeinden gerichteten Briefen des Paulus fast jeder Bezug. Sie handeln von seinem Tod und seiner Auferstehung als Opfer für die Sünden der Menschen und verkünden den Glauben an ihn als Iesos Christos. Diese Umwandlung ist grundlegend für das spätere Christentum. Indem in der katholischen Messe und im protestantischen Gottesdienst jeder Lesung aus dem Evangelium ein Abschnitt aus den Briefen vorangestellt wird, ist dafür gesorgt, daß Jeshua-Jesus nicht in einer seiner Botschaft entsprechenden Weise, sondern im Sinne des Paulus interpretiert wird.

Und der Widerspruch ist gravierend: Paulus lebte und wirkte in einer völlig anderen Welt als der jüdische Wanderprediger aus dem ländlichen Galiläa, dessen Anhänger Handwerker und Fischer waren. Als selbsternannter Botschafter im Namen einer Persönlichkeit, die er nicht kannte und von der er nichts wissen wollte, verkündete Paulus seine eigenen Überzeugungen und behauptete auch seine Überlegenheit gegenüber den Jüngern und Freunden Jeshuas.

Nach den Berichten ist es eindeutig, daß Jeshua sein Wirken und seine Ansprachen an seine Zuhörer als Anweisungen zum praktischen Handeln verstanden wissen wollte, wie es das Gleichnis Vom barmherzigen Samariter zeigt:

Ein Schriftgelehrter wollte ihn auf die Probe stellen und sprach: "Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben gewinne?" Er aber sprach zu ihm: "Wie steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du es?" Er antwortete: "Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst." Er aber sprach zu ihm: "Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben." Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: "Wer ist denn mein Nächster?" Da antwortete Jesus: "Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Es begab sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und da er ihn sah, ging er vorüber. Desgleiche sah ihn ein Levit und ging auch vorüber. Ein Samariter aber kam dahin und da er ihn sah, jammerte es ihn. Er ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag, als er abreiste, gab er dem Wirt Geld und sprach zu ihm: 'Pflege ihn; und wenn du mehr tun mußt, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme."Welcher dünkt dich, der unter diesen Dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?" Er sprach: "Der die Barmherzigkeit an ihn tat." Da sprach Jesus zu ihm: "So gehe hin und tue desgleichen!"

Paulus dagegen verurteilt die Auffassung, durch alltägliches Handeln das ewige Leben zu gewinnen, weil er darin eine Art Berechnung auf Belohnung sah. Er vertritt die Auffassung, ein Mensch werde nur durch die Gnade Gottes des Glaubens an Christus teilhaftig. [1]

Das Wirken und die lebenspraktischen Reden des Menschen Jeshua haben über alle Zeiten die grüblerische Gedankenwelt des Paulus überstrahlt. Andererseits wäre es ohne dessen unermüdlichen Einsatz für den von ihm verkündeten neuen Glauben bei den sich gründenden Gemeinden in der jüdischen Diaspora nicht zum Sieg der späteren Kirche gekommen.

Das Problem bleibt aber, daß die ursprünglich auf eine soziale und gerechte Lebenspraxis gerichtete Botschaft des Jeshua durch den Glauben an Jesus Christus ersetzt wurde und damit ihre Verbindlichkeit verlor. Für Außenstehende war und ist diese Umdeutung schwer nachvollziehbar. [2]

 

II

Allerdings stößt man auch auf Widersprüche in der Persönlichkeit des Jeshua selber, wenn man sich unbefangen der Lektüre der Schriften überläßt: Äußerungen von Sanftmut und Milde wechseln mit  Ausbrüchen von Zorn und Heftigkeit; die Androhung einer Hölle mit  Heulen und Zähneklappern steht dem Versprechen des Himmelreichs gegenüber. Das Zitat: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert, war von jeher rätselhaft. Bei der historischen Interpretation bleibt offen, wieweit Jeshua oder seine Anhänger am jüdischen Widerstand beteiligt waren: Bei seiner Festnahme zieht Petrus, einer seiner engsten Mitstreiter, sein Schwert und verletzt einen römischen Soldaten.

Auch das Verhältnis Jesus zur jüdischen Gesetzespraxis ist unklar: Einerseits scheint er mit seinen Anhängern einen sehr lockeren Umgang mit dem Arbeitsverbot am Sabbat zu pflegen und zu demonstrieren. Andererseits gibt es das Zitat: Denkt nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.

Aber im Bewußtsein der meisten Menschen, die im Rahmen eines Gottesdienstes oder durch andere Vermittlung je von Jeshua gehört haben, ist seine Botschaft eine Aufforderung zu menschlicher Nähe, einem sanften und freundlichem Umgang miteinander, einer Fürsorge für Kinder, Arme und Kranke, die Einbeziehung Ausgegrenzter und Verachteter.

In diesem Sinne wurden und werden die Seligpreisungen verstanden:

 

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;

denn ihrer ist das Himmelreich.

 

III

Das Gleichnis Vom verlorenen Sohn ist längere Erzählungen Jeshuas, ihr Thema ist die grenzenlose Güte eines Vaters gegenüber seinen Söhnen.

Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere sagte: 'Vater, gib mir den Teil der Erbschaft, der mir zusteht!' Da teilte der Vater seinen Besitz unter die beiden auf. Nach ein paar Tagen machte der jüngere Sohn seinen ganzen Anteil zu Geld und zog weit weg in die Fremde. Dort lebte er in Saus und Braus und verjubelte alles. Als er nichts mehr hatte, brach in jenem Land eine große Hungersnot aus; da ging es ihm schlecht. Er hängte sich an einen Bürger des Landes, der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Er war so hungrig, dass er auch mit dem Schweinefutter zufrieden gewesen wäre; aber er bekam nichts davon. Endlich ging er in sich und sagte: 'Mein Vater hat so viele Arbeiter, die bekommen alle mehr, als sie essen können, und ich komme hier um vor Hunger. Ich will zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden; ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu sein. Nimm mich als einen deiner Arbeiter in Dienst!'

So machte er sich auf den Weg zu seinem Vater. Er war noch ein gutes Stück vom Haus entfernt, da sah ihn schon sein Vater kommen, und das Mitleid ergriff ihn. Er lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und überhäufte ihn mit Küssen. 'Vater', sagte der Sohn, 'ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden, ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu sein!' Aber der Vater rief seinen Dienern zu: 'Schnell, holt die besten Kleider für ihn, steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm Schuhe! Holt das Mastkalb und schlachtet es! Wir wollen ein Fest feiern und uns freuen! Denn mein Sohn hier war tot, jetzt lebt er wieder. Er war verloren, jetzt ist er wiedergefunden.' Und sie begannen zu feiern. Der ältere Sohn war noch auf dem Feld. Als er zurückkam und sich dem Haus näherte, hörte er das Singen und Tanzen. Er rief einen der Diener herbei und fragte ihn, was denn da los sei. Der sagte: 'Dein Bruder ist zurückgekommen und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn gesund wieder hat. 'Der ältere Sohn wurde zornig und wollte nicht ins Haus gehen. Da kam der Vater heraus und redete ihm gut zu.

Aber der Sohn sagte zu ihm: 'Du weißt doch: All die Jahre habe ich wie ein Sklave für dich geschuftet, nie war ich dir ungehorsam. Was habe ich dafür bekommen? Mir hast du nie auch nur einen Ziegenbock gegeben, damit ich mit meinen Freunden feiern konnte. Aber der da, dein Sohn, hat dein Geld mit Huren durchgebracht; und jetzt kommt er nach Hause, da schlachtest du gleich das Mastkalb für ihn.' - ' Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.'

Die Liebe eines Vaters zu seinen Söhnen, die Bereitschaft, das Eingeständnis von Fehlern anzuerkennen, die Einladung an den Älteren, seine Freude für den Wiedergefundenen mit ihm gemeinsam zu feiern, und seine Güte – das ist die schlichte Botschaft dieses Gleichnisses.

 

IV

Ebenso berühmt wie die Gleichnisse Vom Samariter und Vom Verlorenen Sohn ist die Episode Von der Ehebrecherin:

Die Gesetzeslehrer führten eine Frau herbei, die beim Ehebruch ergriffen worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu Jesus: "Im Gesetz schreibt uns Mose vor, daß eine solche Frau gesteinigt werden muss. Was sagst du dazu?" Mit dieser Frage wollten sie ihm eine Falle stellen, um ihn anklagen zu können. Aber Jesus bückte sich nur und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nicht aufhörten zu fragen, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!"  Dann bückte er sich wieder und schrieb auf die Erde.

Als sie das hörten, zog sich einer nach dem andern zurück. Zuletzt war Jesus allein mit der Frau, die immer noch dort stand. Er richtete sich wieder auf und fragte sie: "Frau, wo sind sie geblieben? Ist keiner mehr da, um dich zu verurteilen?"  - "Keiner, Herr", antwortete sie. Da sagte Jesus: "Ich verurteile dich auch nicht. Du kannst gehen; sündige hinfort nicht mehr!"

Und an anderer Stelle finden wir dazu noch einen Kommentar:

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?

Das sind alles Beispiele, in denen Verständnis, Mitgefühl und liebevolles Handeln vorgestellt wird. Und Jeshua zeigt sein offenes Herz allen gegenüber, die der Fürsorge bedürfen:

 

Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!

 

Mit sehr poetischen Worten vermittelt er die Idylle eines nicht von Sorgen erdrückten Lebens:

 

Schaut auf die Vögel des Himmels:

Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen –

euer himmlischer Vater ernährt sie doch.

Lernt von den Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen.

 

 

V

Aber nichts steht so klar und eindeutig für den Menschlichkeit des Jeshua wie die berühmte Goldene Regel, die es zwar in anderen Kulturen auch gibt, aber meistens negativ formuliert: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

In seiner Sprache heißt es:

 

Liebe deinen Nächsten als dich selbst.[3]

 

Und er dehnt diese Liebe über die Nächsten hinaus aus und schließt seine Gegner ein:

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin, Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab. Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!

 

Oder er geht noch weiter:

 

Liebet eure Feinde,

segnet, die euch fluchen,

tut wohl denen, die euch hassen,

bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.

 

Und auch seine letzten Worte bleiben dieser Auffassung von seinen Mitmenschen treu:

 

Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!

VI

Nach der Verurteilung, Geißelung und Kreuzigung des Jeshua berichten die Schriften vom leeren Grab, der Begegnung mit den Anhängern, einem gemeinsamen Essen, der Auferstehung am dritten Tag und dem Pfingstwunder: der plötzlichen Verständigung in allen Sprachen.

Die Niederlage verwandelt sich zum Sieg. Der Wanderprediger wird zum Sohn Gottes verklärt, der mit seinem Tod die Sünden der Welt auf sich genommen hat.

Während des Exils und der Unterdrückung und jetzt unter der römischen Besatzung war es immer wieder zu Erwartung eines Retters und der Vorstellung eines Endes der Zeiten gekommen. Mit Auflösung des jüdischen Staates im Jahre 70 konnte es keine Hoffnung auf eine konkrete Verbesserung der Situation mehr geben und daher lag es nahe, von einem Weltende und einer neuen Welt zu träumen.

Diesen Fantasien entsprach die Vision des Johannes, die unter dem Namen Offenbarung ein Weltgericht und die Zuweisung der Menschen in die Hölle und den Himmel in eindrucksvollen Bildern ausmalte.

Die kosmopolitische Situation der Mittelmeerländer hatte zu einem Markt der Kulturen und der Religionen geführt, die sich gegenseitig beeinflußten, für sich warben oder sich bekämpften.

Während es in Israel eher die arme Bevölkerung war, deren Hoffnungen sich auf rettende Botschaften richteten, waren es in der griechisch-römischen Welt auch Wohlhabende, die sich an der Entstehung neuer Glaubensgemeinschaften beteiligten. So kam es, daß außer reichen Bürgern auch Politiker und häufig deren Frauen den Glauben die Botschaft gegenseitiger Hilfe und Fürsorge für Arme, Kranke und Waisenkinder verkündeten und praktizierten.

Caritatives Engagement gehörte zu den Grundlagen des entstehenden Christentums und wurde in späteren Ordens- und Klostergemeinschaften immer neu definiert und organisiert.

Andererseits wurde die ursprüngliche Gegenseitigkeit schon bald durch Hierarchiebildungen verdrängt: es kam zu Ämtern und Spaltung in Priester und Laien. In größeren Kirchenbauten war der Chor den Privilegierten und Priestern vorbehalten und war gegenüber der Gemeinde abgeschirmt.

Die Theologie des Paulus, die sich um die Bestimmung des Verhältnisses von Vater, Sohn und Heiligen Geist bemühte, wurde durch nachfolgende Denker wie Ambrosius, Augustinus, Abälard, Thomas von Aquin und Theologen wie Erasmus, Luther, Calvin und Zwingli weiterentwickelt, behielt aber ihre Orientierung am Denken des Paulus. Philosophen wie Spinoza nahmen Einflüsse des Islam auf und stellten die Verbindung zur griechischen Antike, zu Platon und Aristoteles wieder her.

 

Machtausübung, politischer Einfluß und Reichtum bestimmten von nun an das Verhältnis der etablierten Kirche zur Bevölkerung. In der weiteren Entwicklung gewann das Christentum an Macht und Bedeutung, verlor aber die Orientierung an der geistigen Botschaft ihres Namensgebers oder kehrte sie ins Gegenteil. Verfolgung und Kriege zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppen, Rückeroberungsversuche des inzwischen islamisch beherrschten Jerusalem durch die Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen und Inquisition mit Folter und Scheiterhaufen, Eroberung, Völkermord und Kulturzerstörung auf dem amerikanischen Kontinent, Sklaverei und Kolonialismus vollzogen sich im Namen Christi und im Zeichen des Kreuzes oder in Verbindung mit  christlicher Mission.

Die Völker des Westens litten in einem Zeitraum von über 2000 Jahren Christentum an Dogmatismus, Intoleranz, Kriegen, Gewalt und Verbrechen, aber schufen auch caritative Einrichtungen und  widmeten sich dem Bau von Kirchen und Klöstern, der Bildhauerei, Malerei, Musik und Literatur als Symbole einer Welt der Menschlichkeit.

Volkstümliche Einflüsse lösten einen Kult von heiligen und Reliquien aus, die im Namen von vielen Kirchen und Wallfahrtsorten erscheinen und ergänzten den männlich dominierten Kult der Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist durch die Verehrung der Jungfrau Maria, die in den Schriften einfach nur die Mutters des Jeshua ist, aber in ihrem Lobgesang sich weit über die anderen Gestalten der Schriften erhebt. Dieser Text wird unter dem Namen Magnifikat zu einem der meistvertonten Texte der Musikgeschichte. Ihm zur Seite stehen die ergreifenden Verse des Stabat Mater, die den Schmerz einer Mutter angesichts des Todes ihres Sohnes ausdrückt. Am beliebtesten sind aber Vertonungen des Ave Maria.

In jedem Gottesdienst, der in der auf die Briefe des Paulus gegründeten und in der Kirchenentwicklung erweiterten Tradition sich des Glaubens an Jesus Christus versichert, scheint immer auch die ursprüngliche Botschaft des Jeshua durch und vereint in seinem Geiste die Teilnehmer. Aber es bleibt ein Gefühl der Vergeblichkeit, verursacht durch den Widerspruch, daß man sich zu einem feierlichen Gottesdienst zusammenfindet, um sich mit einer Botschaft der Mitmenschlichkeit auseinanderzusetzen, deren Lebensnähe auch heute noch betroffen macht, die aber vermittels der paulinisch orientierten Interpretation um ihre Wirksamkeit gebracht wird und nicht nach außen getragen wird. So konnte der Eindruck entstehen, daß Christen eine Ethik predigen, die sie selbst nicht befolgen. Die Auffassung des Paulus, die staatliche Ordnung sei von Gott gegeben, rechtfertigte die sich verschärfende Aufspaltung der Welt in Arme und Reiche und machte Jesus schwer erfüllbare Absage an den Reichtum zu einer nur noch utopischen Idee.

Doch die Botschaft des zwischenmenschlichen Füreinanderdaseins gewinnt ihre zukunftweisende Ausrichtung zurück, indem gewaltfreies solidarisches gesellschaftlichen und staatliches Handeln im Austausch und in offener Auseinandersetzung mit den Vorstellungen und Traditionen anderer Kulturen und Religionen als weltweites ethisches Prinzip anerkannt und als konkretes Handeln im Alltag gelebt wird.

 



[1] Paulus spricht abwertend über die jüdische Auffassung von den Werken des Gesetzes oder der Werkgerechtigkeit. Der Devise Nicht durch Werke, sondern durch den Glauben werdet ihr gerettet folgte über Augustinus auch Luther. So verstand er unter evangelisch nicht so sehr die Rückbesinnung auf das Wirken und die Lehre Jeshuas, sondern auf die Theologie des Paulus.

[2] Der Japaner Okakura schreibt in seinem Buch vom TeeWir hielten die Europäer führ die unpraktischsten Menschen der Welt, von denen man sagte, daß sie Lehren predigen, die sie niemals befolgen.

[3] Tania Blixen gibt ein schönes Beispiel für einfühlsame schwarze Nächstenliebe: „Ein Weißer, der einem etwas Freundliches sagen wollte, würde sagen: ‚Ich kann dich nie vergessen.‘ Der Afrikaner sagt: ‚Wir trauen dir nicht zu, daß du uns je vergessen wirst.‘“